Hades
Bruder zu rufen. «Gabriel! Sie sind hier. Sie haben uns gefunden!» Aber es kam keine Antwort.
Sobald wir den Kiesweg vor unserer Hütte erreicht hatten, blieb Xavier stehen, suchte in der Hosentasche nach seinem Handy und klickte sich mit zitternden Fingern durch seine Kontaktliste. Gerade als er auf Anrufen drücken wollte, wurden wir von unsichtbarer Hand zurückgerissen. Ich war schon halb die Verandastufen hinaufgestiegen und stolperte nun hinunter, sodass ich mit Xavier zusammenstieß. Scheppernd fiel das Handy zu Boden. Bevor einer von uns auch nur versuchen konnte, es aufzuheben, öffnete sich die Haustür. Der Reiter war bereits da.
Verzweifelt suchte ich nach einem Ort, an dem wir uns verstecken konnten, erkannte aber schnell, dass das unmöglich war.
«Lass uns in Ruhe!», rief ich stattdessen und wich von der makellosen Gestalt zurück. Als Antwort machte er einen Schritt auf mich zu, als ob er mich daran erinnern wollte, dass er sich nicht herumkommandieren ließ. Unter seinen Füßen knarzte ein loses Brett, ein Geräusch, das mir an diesem lauen Nachmittag unerträglich laut vorkam.
Wo waren Gabriel und Ivy? Hatten sie meinen Hilfeschrei nicht empfangen? Oder wurden sie aufgehalten? Es lief mir kalt den Rücken hinunter, als mir klarwurde, was in den nächsten Sekunden geschehen konnte. Unsere einzige Chance war, Ruhe zu bewahren. Hauptsache, Xavier tat nichts Unüberlegtes, um mir zu helfen – der Reiter würde ihm in Sekundenschnelle das Lebenslicht auslöschen.
Die dünne weiße Haut über seinen Augen machte es unmöglich zu bestimmen, wen oder was er fixierte. Daher kam es für mich unerwartet, als er plötzlich galant die Hand nach mir ausstreckte.
«Wir müssen reden», sagte der Reiter. Seine Stimme klang tonlos, wie dumpfes Vibrieren. «Würdest du bitte eintreten?»
Er trat einen Schritt zur Seite und machte mir Platz, damit ich ins Haus gehen konnte. Aus der Nähe wirkten seine Gesichtszüge so glatt wie aus Gips. Was mich irritierte, war sein Geruch: Eine Mischung aus billigem Parfüm und einem Hauch von Benzin brannte mir in der Nase.
«Das hättest du wohl gern!», fauchte Xavier. «Beth geht nirgendwo mit dir hin.»
«Xavier, bitte!», flüsterte ich. «Lass mich das machen.»
Der Reiter schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass Xavier gesprochen hatte. «Es wird nicht lange dauern», sagte er gespielt höflich. Wir wusste es beide: Wenn ich ihm in die Hütte folgte, würde ich nicht wieder herauskommen. Trotzdem trat ich zögernd einen Schritt vor. Meine Füße waren schwer wie Blei.
«Beth, warte.» Xavier packte mich am Arm und starrte mich mit schreckgeweiteten Augen an. «Du willst nicht wirklich mit diesem … Freak da reingehen, oder?»
Falls der Reiter sich angegriffen fühlte, zeigte er jedenfalls keine Regung. Sein Gesicht blieb so starr wie ein Digitalfoto.
«Macht die Dinge nicht komplizierter, als sie ohnehin schon sind», warnte er nur.
Jetzt musste ich schnell reagieren, musste etwas tun, was ihn hinhalten würde, ihn überrumpeln. Was würde Gabriel sagen?, ging es mir durch den Kopf. Und da wusste ich es. Vielleicht war das der Schlüssel zum Erfolg.
«Du richtest dich gegen deine eigene Art», sagte ich plötzlich. «Das weißt du, oder?» Wie klug war dieser Reiter eigentlich? Würde er meinen Plan durchschauen? Wenn ich es schaffte, auch nur wenige Minuten mit ihm zu reden, waren Gabriel und Ivy vielleicht rechtzeitig hier.
«Es tut mir leid, Miss Church, aber nicht ich bin derjenige, der sich gegen die Seinen gewandt hat.» Er sprach mit einer so kalten Autorität, dass meine Zuversicht ins Wanken geriet.
«Genau genommen heiße ich jetzt Mrs. Woods», sagte ich dreister, als ich mich fühlte.
Seine Lippen schienen sich zu einem leichten Lächeln zu verziehen, das erste Anzeichen von Emotion, das ich an ihm wahrnahm. Machte er sich über mich lustig?
«Ich gebe Ihnen den Rat, Mrs. Woods, meiner Anordnung Folge zu leisten. Dann wird es kein Blutvergießen geben müssen», antwortete er und warf einen flüchtigen Blick in Xaviers Richtung. Ich wusste, dass unter der höflichen Allüre des Geschäftsmanns ein Soldat verborgen war, der nur ein Ziel hatte: seine Mission zu erfüllen – um welchen Preis auch immer. Ich spürte, wie sich meine Gedanken wieder zu trüben begannen.
«Natürlich», sagte ich automatisch. «Ich verstehe.»
Xavier griff nach meiner Hand. «Ich lasse dich nicht gehen.»
«Das ist schon in Ordnung», log ich. «Wir
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