Hades
Jake hatte mich an den Haaren gepackt und lenkte das Motorrad mit einer Hand. Ich versuchte, den Schmerz zu verdrängen und mich zu befreien, aber ohne Erfolg.
«Hab dich», schnurrte er. Er klang wie ein Raubtier, das seine Beute ergattert hatte.
Jake gab Vollgas, dass der Motor aufheulte wie eine wütende Bestie. Das Motorrad bäumte sich auf und schlingerte vorwärts.
«Xavier!», brüllte ich, als er uns erreicht hatte. Wir streckten uns die Hände entgegen, und beinahe berührten sich unsere Fingerspitzen. Aber Jake wendete das Motorrad scharf und rammte Xavier. Ein lauter Knall erklang, als das Metall gegen seinen Körper schlug. Xavier fiel hin und rollte schlaff an den Straßenrand. Ich schrie auf. Dann konnte ich ihn nicht mehr sehen. Jake gab Gas und ließ Xavier in einer Staubwolke zurück. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Bewegung in die Straße kam – offensichtlich waren die anderen von dem Lärm aufmerksam geworden. Ich betete, dass sie Xavier rechtzeitig fanden.
Das Motorrad raste die leere Straße voran, die sich wie ein schwarzer Faden vor uns ausdehnte. Wir waren so schnell, dass wir in den Kurven fast den Boden berührten. Jede Faser meines Körpers drängte zurück zu Xavier, meiner einzigen wahren Liebe, dem Licht meines Lebens. Die Vorstellung, wie er bewegungslos im Staub lag, schnürte mir die Luft ab. Der Schmerz fraß mich so auf, dass es mir beinahe egal war, wohin Jake mich brachte oder welche Gräueltaten mich erwarteten. Auf einmal merkte ich, dass ich weinte. Mein Körper wurde von heftigem, quälendem Schluchzen erschüttert, und die Augen brannten mir von all den heißen Tränen.
Ich konnte nichts tun, als den Schöpfer anzurufen, zu ihm zu beten, ihn zu bitten, zu flehen, zu handeln – ich hätte alles getan, um Xavier zu schützen. Er durfte nicht auf diese Weise von mir gerissen werden. Alles würde ich überleben, Gefühlsqualen, schlimmste körperliche Folter, Armageddon oder himmlische Feuerzungen, aber nicht seinen Tod. Wenn Jake Xavier getötet hatte, würde er dafür bezahlen! Mir war klar, dass dies ein seltsamer Gedanke für einen Engel war, und es war mir egal, dass es die göttlichen Gesetze verboten: ich würde für diese Tat Vergeltung suchen. Jedes Verbrechen konnte ich verzeihen, aber nicht, wenn es gegen Xavier gerichtet war. So wahr mir Gott helfe, Jake würde seine wohlverdiente Strafe bekommen. Wie gerne hätte ich den Körper vor mir zerkratzt und in Stücke gerissen, ihn bestraft, weil er schon wieder mein Leben mit seiner schwarzen Seele verseuchte. Ich fühlte mich schon beschmutzt, nur weil ich in seiner Nähe war. Wenn ich mich mit meinem ganzen Gewicht zur Seite beugen würde, konnte ich dann wohl das Motorrad zum Schlingern bringen? Bei unserem Tempo würden wir dabei wahrscheinlich beide auf dem Asphalt zerschellen, aber ich war verzweifelt genug, es zu riskieren.
Bevor meine Gedanken noch weiter außer Kontrolle gerieten, geschah etwas. Etwas, was ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen können. Seltsamerweise geriet ich weder in Panik, noch verlor ich vor Schreck das Bewusstsein. Aber was geschah, war so unbegreiflich, dass ich nichts fühlte als Übelkeit, die tief aus meinem Inneren zu kommen schien und sich wie Gift in meinem Körper ausbreitete: Die Straße trotzte auf einmal der Schwerkraft und stieg vor uns in die Höhe, während sich in der Mitte ein tiefes, zerklüftetes Loch öffnete. Die Straße riss auf. Das Loch weitete sich zu einem hungrigen höhlenartigen Mund, der darauf wartete, uns zu verschlingen. Der Wind, der mir ins Gesicht schlug, wurde wärmer, vielleicht von dem Dampf, der aus dem zerborstenen Asphalt aufstieg. Das dumpfe Gefühl der Leere, das von der Öffnung ausging, verriet mir, was ich hier sah: Wir fuhren direkt auf ein Portal der Hölle zu!
Das Motorrad schwebte einen Moment in der Luft, Jake schaltete den Motor aus, und dann stürzten wir lautlos hinab. Ich schrie. Im Fall drehte ich mich um und sah, wie sich die Öffnung hinter uns schloss und das Mondlicht, die Bäume, die Zikaden und die Erde, die ich so sehr liebte, ausgesperrt wurden.
Ich hatte keine Ahnung, wann ich all das wiedersehen würde.
Das Letzte, was ich wahrnahm, waren der Sturz und meine zerrissenen Schreie, bevor wir von der Dunkelheit verschluckt wurden.
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6
Willkommen in meiner Welt
Ich blickte mich verwirrt um. Wie kalt mir in dem dünnen Satinkleid war! Ich hatte nicht die geringste
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