Hades
ihrem schmutzigen Gesicht bildete. Sie sah mich so verzweifelt an, dass ich das Gefühl hatte, ihre ganze Traurigkeit würde in mich hineinsickern. Es brach mir fast das Herz.
«Taylah», flüsterte ich. «Bist du es wirklich? Was tust du hier?»
«Das könnte ich dich genauso fragen.» Sie lächelte abwesend. Wie früher war sie mit einem knappen Top und engen Jeansshorts bekleidet. Weil sie barfuß war, konnte ich den abgeplatzten Nagellack auf ihren Füßen im Staub sehen.
«Wurdest du auch entführt?», fragte ich. «Hat Jake dich hierhergebracht?»
Taylah schüttelte den Kopf. «Ich bin verurteilt worden, Beth», sagte sie leise. «Man hat meine Seele hierhergeschickt.»
«Aber warum?», flüsterte ich heiser. Was wollte sie mir sagen?
«Nachdem ich auf dem Fußboden in der Mädchentoilette gestorben war, hörte ich viele Stimmen. Sie wogen meine Sünden und guten Taten ab. Und dann bin ich gefallen.»
Was war im Leben dieses Mädchens bloß geschehen, dass man es an diesen Ort verbannt hatte? Ich hätte gern gefragt, brachte aber kein Wort heraus. Es wäre auch ziemlich taktlos gewesen. Doch ich war mir sicher, dass es eine Fehlentscheidung gewesen war. Taylah war nur ein Mädchen. Ja, sie war oberflächlich, zickig und ständig auf Konkurrenzkampf aus gewesen, aber das waren doch keine Verbrechen! Sicher war sie ziemlich gemein zu denen gewesen, die nicht zu ihrer Glitzerwelt aus Sonnenbräune und Pilates gehörten, aber ich kannte auch ihre netten Seiten. Und dass sie irgendetwas wirklich Dramatisches verbrochen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen.
«Ich weiß, was du denkst», sagte sie mit schamerfülltem Gesicht. «Du fragst dich, warum ich hier bin.»
«Du musst es mir nicht erzählen, Taylah.»
«Doch, ist schon gut», sagte sie. «Ich bin hier, weil ich nie gelernt habe, an etwas zu glauben. Ich habe nicht begriffen, was im Leben wichtig war.» Sie zögerte, ihr Blick wurde glasig. «Mir ging es nur um meinen Spaß, alles andere war mir egal. Ich habe gesündigt und keinen Gedanken daran verschwendet.»
Ich sah sie erwartungsvoll an, aber es dauerte ein paar Minuten, bis sie den Mut fasste weiterzusprechen. «Ich habe etwas Schreckliches getan. Na ja, vielleicht nicht selber getan, aber ich habe dabeigestanden und es nicht verhindert.»
«Was denn?», fragte ich.
«Vor ein paar Jahren ist in Venus Cove bei einem Unfall mit Fahrerflucht ein kleiner Junge gestorben, Tommy Fincher. Er hatte auf der Straße Fangen gespielt. Es stand in allen Zeitungen, aber der Fahrer wurde nie gefunden. Tommy war erst zehn Jahre alt. Seine Eltern sind nie darüber hinweggekommen.»
«Und was hat das alles mit dir zu tun?»
«Ich war dabei.»
«Was? Warum hast du nichts gesagt?», fragte ich verwirrt.
«Weil ich in den Fahrer verliebt war. Er hatte getrunken, und ich hätte nie zulassen dürfen, dass er sich ans Steuer setzt …» Sie verstummte hilflos.
«Du hast ihn gedeckt? Warum?»
«Ich war erst fünfzehn und er eine ganze Ecke älter als ich. Er hat mir gesagt, dass er mich liebt. Alle Mädchen in meinem Jahrgang waren neidisch auf mich. Ich war so von ihm besessen, dass ich richtig und falsch nicht unterscheiden konnte.»
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Versäumnis war eine schwere Sünde. Manche vertraten sogar die Meinung, dass ein Zuschauer, der zuließ, dass ein Unrecht geschah, genauso viel Schuld auf sich lud wie der Täter selbst. Das Einzige, was man Taylah zugutehalten konnte, war ihre Jugend und Unerfahrenheit. Doch ganz offensichtlich hatte das nicht ausgereicht, um sie zu entlasten.
«Was ist aus dem Fahrer geworden?»
«Ein paar Monate später ist Toby mit seiner Familie nach Arkansas gezogen. Zwischen uns war dann Schluss.»
«Aber dann hättest du doch etwas sagen können?»
«Ich habe geschwankt, aber nie den Mut gefunden. Den kleinen Jungen hätte es ohnehin nicht zurückgebracht. Und ich hatte solche Angst davor, was die Leute sagen und denken würden – über mich.»
«O Taylah», sagte ich. «Ich wünschte, du hättest jemand gehabt, dem du dich hättest anvertrauen können. Du musst dich so einsam gefühlt haben.»
Sie hatte nicht mehr viel mit dem Mädchen gemein, das sie einmal gewesen war. Die alte Taylah war viel zu sehr mit ihrer Frisur beschäftigt gewesen, um sich über Recht und Unrecht Gedanken zu machen. Jetzt schien sie begriffen zu haben, aber zu spät.
«Weißt du, woher ich wusste, dass ich in der Hölle bin – oder in Hades , wie der
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