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Hades

Hades

Titel: Hades Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Adornetto
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geschieht.»
    «Lass uns jetzt nicht darüber nachdenken.»
    Tucker schlug einen schnelleren Schritt an. Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen.
    Schon kurz hinter dem Clubviertel wurde es schwül, und die Gegend begann sich massiv zu verändern. Vor uns breitete sich eine Art Wüste aus. Es war, als hätte man alle Farben und alles Leben herausgesaugt und nur leere graue Hüllen zurückgelassen. Nebel stieg auf und versperrte den Blick auf das, was hier unten der Himmel war. Die engen Tunnel hatten wir hinter uns gelassen, aber noch immer waren wir in einer seltsamen Dimension gefangen, die weder Anfang noch Ende hatte. Das Schlimmste daran waren die ständigen Geräusche: Die Luft um uns herum schien vom gedämpften Klagen der verlorenen und herumirrenden Seelen erfüllt. Ich konnte ihre Gegenwart spüren, wenn sie an uns vorbeiglitten, wie ein kräuselndes Feuer in einer Luft, die ohnehin schon drückend war. Sehen konnte ich sie nicht, höchstens einen Schimmer von ihnen erahnen, aber ich wusste, dass sie da waren und dass nichts ihre übernatürlichen Schreie stoppen konnte. Mein Herz raste, und ein tiefes Gefühl der Trostlosigkeit überkam mich, beinahe, als würde man mir die Seele aus dem Körper reißen. Ich verspürte den unwiderstehlichen Drang, stehen zu bleiben, doch Tucker nahm meine Hand und lief nur noch schneller.
    «Ich bin müde, Tuck», hörte ich mich selbst sagen.
    «Nicht schlappmachen», flüsterte er. «Es ist dieser Ort. Er wirkt so. Aber wir müssen weiter.»
    Auf Tucker schien die Einöde nicht den gleichen Effekt zu haben wie auf mich. Vielleicht hatte ihn die lange Zeit in Hades immun gemacht. Oder vielleicht lag es auch daran, dass ich ein Engel war und die Verzweiflung jeder einzelnen Seele um mich herum spüren konnte.
    «Wenn wir uns hier zu lange aufhalten, können die Fährtenleser unseren Duft aufnehmen», erklärte Tucker.
    Diesen Gedanken hatte ich völlig verdrängt. Und ich wusste, dass ich als Engel den klaren, sauberen Geruch des Regens verströmte, der zwar in der verrauchten Atmosphäre der Clubs überdeckt wurde, im Freien aber eindeutig auszumachen war.
    «Wer sind eigentlich diese Fährtenleser?» Ich hatte immer noch Probleme mit der Atmung. Tuck sah mich an und schüttelte den Kopf.
    «Dafür ist jetzt keine Zeit.»
    «Bitte», drängte ich. Seit wir das Hotel verlassen hatten, war Tucker in eine Art Beschützerrolle geschlüpft, die er nicht kampflos aufgeben würde. «Wenn ich es weiß, geht es mir besser.»
    Tuck seufzte. «Die Fährtenleser spüren die Seelen auf, die in der Einöde herumirren.» Er sprach kurz und knapp, als ob er sich schon ohne unser Gespräch genug konzentrieren musste.
    «Werden die Seelen dann in die Clubs gebracht?», fragte ich naiv.
    «Nicht wirklich.»
    «Man wirft sie in den Höllenpfuhl, oder?», fragte ich. «Ist schon gut, Tucker. Ich habe ihn gesehen.» Ich wollte ihm gerade sagen, dass er mich nicht zu schonen brauchte, als er plötzlich vor mich sprang und mir die Hand auf den Mund legte.
    «Hörst du das?», fragte er.
    «Was?»
    «Hör hin!»
    Für einen Moment standen wir schweigend da, bis auch ich das Geräusch hörte, das Tuck alarmiert hatte. Es war eine Stimme, atemlos und hoch, wie von einem jungen Mädchen. Die Stimme rief meinen Namen. «Bethany», klagte sie. «Bethany, ich bin es.» Die kindlich klingende Stimme kam näher.
    Ich hielt den Atem an, als jetzt eine heiße Luftböe um uns herum aufstieg. Tuck ließ die Hand sinken.
    «Wer bist du?», fragte ich zitternd. Ich spürte, dass jemand in dem Wind war, jemand, der mich mit langen spitzen Fingern streichelte.
    «Erinnerst du dich nicht an mich?» Die Stimme klang verzweifelt und kam mir irgendwie bekannt vor.
    «Wir können dich nicht sehen», sagte Tuck mutig. «Tritt aus dem Schatten heraus.»
    «Ja, bitte», ermutigte ich sie. «Wir tun dir nichts. Wir sind auf deiner Seite.»
    Mit offenem Mund sah ich, wie aus dem wirbelnden Nebel langsam ein Mädchen zutage kam. Zuerst war es nur ein Umriss, wie die Skizze eines Künstlers, der noch nicht richtig ausgemalt hatte, aber als sie mehr Gestalt bekam und ich sie genauer anschaute, wusste ich, wer sie war. Das platinblonde Haar, die vorwitzige Nase, der Schmollmund – das alles war mir schmerzhaft vertraut. Und auch wenn die Haare glanzlos waren und die Wangen eingefallen, war ein Irrtum ausgeschlossen. Ihre blauen Augen hatten noch nichts von ihrer Strahlkraft verloren, was einen starken Kontrast zu

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