Hadschi Halef Omar im Wilden Westen
war ich mit Winnetou allein – endlich! Wir befanden uns nahe dem Zusammentreffen des Cheyenne River, von welchem die Stadt ihren Namen hat, mit dem Lightning Creek, der kurz vor dem North Platte ausläuft. Zunächst waren uns flußabwärts noch allerhand Wagen und Reiter begegnet, dann wurde dieser Verkehr schwächer, ehe er, nach weiteren Stunden, fast verebbte. Seit dem Morgen bis jetzt, um die frühe Nachmittagszeit, war uns kein Mensch mehr begegnet: Die Wildnis hatte begonnen.
Noch hielten wir uns auf der rechten Seite des Flusses, wollten aber bei nächster Gelegenheit hinüber auf die andere, um erst recht Distanz zwischen uns und den Rest dessen zu legen, was man
Zivilisation nannte. Zu jener Zeit waren in dieser Gegend noch kaum Brücken geschlagen, also mußten wir nach einer Furt suchen oder wenigstens nach einer Stelle, die es unseren Pferden erlaubte, durch das recht munter bewegte Wasser des Cheyenne zu waten. Unser Suchen galt freilich nicht nur einem geeigneten Übergange, von nun an bestand überhaupt die Notwendigkeit, sich auf jedem unserer Schritte vorzusehen.
Wie sehr, zeigte sich, als Winnetou leise »Uff!« ausrief.
In diesem Ausruf, der kaum ein Wort bildete, steckten Warnung, Erklärung und Anweisung zugleich. Es gab darum für mich kein Zögern, als Winnetou sein Pferd in das hohe Flußgesträuch lenkte, das biegsam genug war, um sich hinter ihm sofort wieder zu schließen und so einen ganzen Reiter vollständig zu verbergen. Ich folgte ihm und war genauso verschwunden wie er.
In dem Verstecke sprang Winnetou ab, und weil ich es ihm auch in dieser Hinsicht gleichtat, knieten wir alsbald nebeneinander. Vorsichtig, selbst für ein geübtes Auge unmerklich, schob der Häuptling ein paar Halme auseinander. Jetzt erfuhr ich, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte und ihn so umsichtig handeln ließ.
Einen halben Steinwurf von uns entfernt kauerte seinerseits ein junger Indianer. Mit uns zugewandtem Rücken strich er, die Finger seiner jeweils ausgestreckten Hände gespreizt, über das Gras, offenbar suchte er etwas. Hin und her bewegte er sich, geschickt, aber nicht ganz unhörbar und vor allem nicht unsichtbar, denn wir beobachteten ihn ja. Er suchte und suchte, wollte aber nicht fündig werden.
Winnetou und ich verfolgten dies Bestreben eine Weile, und als der Indianer sich erhob, um wohl seine Suche einzustellen und noch weiter dem Ufer zuzustreben, klappte Winnetou neben mir seine Hand auf. Was ich sah, ließ mich schmunzeln: Ein dünner, kurzer Lederriemen, dessen Rehfarbe allen uns umgebenden Gräsern weitgehend glich, war dem Auge des Apachen aufgefallen. Mehr noch, selbst ich, der doch neben ihm ritt, hatte nicht bemerkt, wie er sich nach dem verräterischen Fundstück vom
Pferde gebeugt und es aufgehoben, zugleich aber schon nach demjenigen ausgespäht hatte, der es verloren haben mußte.
Dieser war der Indianerknabe, den wohl wir bemerkt hatten, er aber nicht uns. Ohne daß wir uns erst hätten abstimmen müssen, sogen wir mit unseren scharfen Sinnen jedes weitere Geräusch, alle Gerüche, die Bewegungen des Windes ein. Dann waren wir uns sicher: Außer dem Jungen, der so unvorsichtig gewesen war, beim Durchstreifen der Flußseite einen Schnürsenkel seiner Mokassins zu verlieren, befand sich niemand sonst in nächster Nähe.
Schon wollten wir uns erheben, um aus dem Versteck zu treten und den Knaben anzurufen, als Winnetou mich zurückhielt. Der Knabe nämlich stand im Begriffe, einen weiteren Fehler zu begehen. Erstmals konnten wir sein Gesicht von der Seite sehen, welches unbemalt war. Da er auch keinerlei Federn im Schopfe trug, nicht einmal ein Stirnband, hatten wir es kaum mit einem Krieger, mithin nicht mit einem gefährlichen Gegner zu tun. Doch als gälte es, einer ganzen Reiterabteilung den Weg zu ebnen, stob er plötzlich durch das ihn überragende, das Flußufer einsäumende Gras davon. Er verschwand darin, tauchte kurz wieder auf, verschwand abermals – und ließ einen Schrei hören.
Bis auf einen Lendenschurz war der Rote nackt, mithin hatte er, sofern er überhaupt etwas besaß, Kleidung, Ausrüstung und sein Pferd zurückgelassen. Wo, war nicht schwer zu erraten – auf der anderen Flußseite, nach der es ihn jetzt wieder zog. War er ein Kundschafter, ein Späher?
Wir sprangen aus der Böschung hervor, hinein in den Grassaum, der den Jüngling verschluckt hatte – mit welchem Resultat, war leicht zu erraten: Er war auf dem unsichtbaren Boden ausgerutscht
Weitere Kostenlose Bücher