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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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frisch Gebackenem, der aus den Abzugsanlagen in den Wald gezogen war, hatte sie hierhergelockt. Anfangs hatte sie überlegt, wie sie in die Bäckerei hineingelangen konnte, ohne gesehen zu werden, hatte sogar die beiden Metalltüren ausprobiert, doch die waren verschlossen. Vor einer halben Stunde waren dann zwei Männer aus diesen Türen gekommen und hatten damit begonnen, die vier Lieferwagen mit frischen Backwaren zu beladen. Wieder war der Duft bis zu ihr gedrungen, hatte den Hunger noch wilder in ihr wüten lassen, hatte aber auch das Zittern verstärkt. Lange, das spürte Ellie, würde sie es nicht mehr aushalten. Dort vorn, keine zwanzig Meter entfernt, luden die Männer im Licht der Außenscheinwerfer Brot, Brötchen, Baguette und Kuchen in die Lieferwagen. Sie arbeiteten schnell und wortlos. Verschwand der eine im Inneren des Gebäudes, kam der andere wieder heraus. Bisher war keine Minute vergangen, in der nicht mindestens einer bei den Wagen gewesen war. Nicht mehr lange, dann würde Ellie einfach über den Parkplatz laufen und ihnen das Brot aus den Händen reißen, sie konnte gar nicht anders. Schweiß lief ihr den gesamten Körper hinab, ihre Kleidung war schon ganz feucht, Speichel füllte ihren Mund, aber nicht den Magen. Ihre zittrigen Hände verkrampften sich um einen Ast, brachen ihn entzwei.
    Das Geräusch war laut. Zu laut in der Stille des frühen Tages. Der Mann, der gerade in der geöffneten Heckklappe des Transporters stand, drehte sich ruckartig um, starrte zu ihr hinüber. Konnte er sie sehen? Er stand im Hellen,
sie hockte im Dunkeln. Trotzdem kam der Mann ein paar Schritte auf sie zu. Verflucht, was sollte das! Im Wald knackte es doch immer mal wieder. Warum interessierte er sich so dafür? Zwei weitere Schritte. Jetzt war er kaum noch zehn Meter entfernt. Ellie konnte schon seine Gesichtszüge erkennen. Sie machte sich bereit. Sollte er seine Neugierde nicht zähmen können, würde er sie mit seinem Leben bezahlen.
    Plötzlich blieb der Mann stehen, griff in die Tasche seines Kittels, holte eine Packung Zigaretten hervor und steckte sich eine an. Während er genüsslich daran zog, beobachtete er weiterhin den Waldrand. Immer wenn er an seiner Zigarette zog, glühte die Spitze orange auf. Beobachtete er einen bestimmten Bereich, oder starrte er einfach nur so, um die Zeit zu überbrücken, die er für die Zigarette brauchte? Ellie wusste es nicht. Sie verhielt sich still, atmete kaum noch, hielt das Gesicht gesenkt, weil sie befürchtete, das Licht der Bäckerei könnte darauffallen und es im Dunkeln sichtbar machen.
    Die Tür ging auf. Ein Mann erschien und rief laut über den Parkplatz. Der andere ließ die Zigarette fallen und trat sie hastig aus. Dann drehte er sich um, überquerte mit langen Schritten den Parkplatz und verschwand im Inneren des Gebäudes. Jetzt war niemand mehr draußen. Die vier Lieferwagen standen mit geöffneten Ladeklappen unbeobachtet da.
    Ellie Brock überlegte nicht lange. Sie stand auf, musste sich dafür mühsam am Baum hochziehen, und schlich durch das Unterholz zum Waldrand. Dort angekommen blieb sie stehen, wartete kurz und rannte dann, so schnell es ihr möglich war, über den Platz. Sie nahm den ihr am nächsten stehenden Lieferwagen ins Visier, erreichte ihn,
ohne dass die Tür der Bäckerei wieder jemanden ausgespuckt hätte. Hastig zog sie zwei Laibe Brot, die noch warm waren und unglaublich gut rochen, hervor, packte sie in ihre Armbeuge, legte noch ein Rosinenbrötchen oben drauf, schnappte sich zwei Lagen Butterkuchen und lief vollbeladen in den Wald zurück.
    Dort fiel sie zu Boden und begann zu fressen.
     
    In den nächsten Tagen erwies sich die Zeit als tückische Angelegenheit, und Sebastian bekam einen schmerzhaften Eindruck davon, was Relativität in diesem Zusammenhang bedeutete. Frühmorgens, sobald die Sonne aufging, machte er sich im Stall an die Arbeit – sehr zum Leid seiner Bewacher, die sich wohl auf einen ruhigen Job gefreut hatten. Er mistete die Boxen aus, verteilte neues Stroh, führte die Pferde auf die Koppeln, fütterte und tränkte sie, kümmerte sich um die Hufe, verabreichte, wenn nötig, Medikamente, bürstete die Tiere, flickte das Zaumzeug. Daneben kümmerte er sich noch um Edgars Beerdigung und bestellte einen Tischler, der die Haustür reparierte. Das war mehr Arbeit, als eine Person allein schaffen konnte, aber er hatte Lars nicht angerufen, weil er sie allein schaffen wollte! Er schuftete von früh bis spät,

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