Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
war rot und dick angeschwollen. Außerdem tat ihr der Rücken weh. Tief drinnen in den Lendenwirbeln hatte sich etwas verschoben, sie spürte es bei jeder Bewegung. Aber sie hatte geschafft, was sie sich vorgenommen hatte. Der Vogelkot und das alte, vor Jahren abgebrannte Holz waren aus der Höhle verschwunden, die störenden Steine hatte sie an der niedrigen hinteren Wand aufgestapelt. In der Mitte hatte sie mit einem im Wald gefundenen Schraubenzieher ein Loch in den felsigen Boden gestemmt, in dem jetzt das kleine Feuer wärmend loderte. Einige hundert Meter vom Berg entfernt hatte sie einen zwei Meter großen Ilex mit den nackten Händen aus dem Boden gegraben, ihn zur Höhle hinaufgezerrt und damit den Eingang verdeckt. Sechsmal war sie den Fels hinuntergestiegen, hatte vom Ufer des Sees aus hinaufgeschaut, um zu überprüfen, ob ihre Tarnung perfekt war. Sie war es. Außer bei Nacht natürlich. Das Feuer war zwar nur klein, und es brannte in der Bodenvertiefung, trotzdem konnte ein geübter Beobachter den rötlichen Schein vom Ufer des Sees aus erkennen. Das musste sie in Kauf nehmen. In der Höhle wurde es nachts unangenehm kalt, sie konnte dort nicht ohne Feuer schlafen. Zum Glück hatte sie in jener Nacht, als sie bei ihrem Ritual gestört worden war, die Streichhölzer
eingesteckt. Aber viele waren nicht mehr übrig. Sie musste haushalten damit.
Ellie Brock war fürs Erste zufrieden. Es war dies nicht das beste Versteck, aber für eine Zeit lang würde es gehen. Die Wunden an den Fingern würden heilen, und den Rücken behandelte sie mit frischen Brennnesselzweigen. Lange musste sie ohnehin nicht hier ausharren. Schon bald würde sie mit Hans in dem großen Haus am Hang leben. Spätestens dann würde sie nicht mehr daran denken, dass sie wie ein wildes Tier in einer Höhle im Wald gelebt hatte.
Sie ergriff den Rest des Brotlaibs. Ein halber Butterkuchen lag noch auf der kleinen Erhebung neben dem Feuer, mehr war nicht übrig geblieben. In ihrem Heißhunger hatte sie viel zu viel in sich hineingestopft, hatte so lange gefressen, bis ihr schlecht geworden war. Zwar würde sie nicht mehr allzu lange hier ausharren müssen, aber ein paar Tage vielleicht doch, also musste sie zwangsläufig der Bäckerei einen weiteren Besuch abstatten. Es war ein weiter Weg bis dorthin, mehr als drei Stunden zu Fuß, einige steile Anhöhen waren zu überwinden, aber das würde sie in Kauf nehmen. Denn noch einmal solchen Hunger verspüren wollte Ellie auf keinen Fall!
Sie riss ein Stück von dem Brotlaib ab, steckte es sich in den Mund und kaute darauf herum. Dabei betrachtete sie das Endstück, den Knust, wie ihre Mutter es genannt hatte, und hatte eine Idee. Die braun gebrannte Rinde war jetzt schon hart, morgen würde sie noch trockener und noch härter sein. Es war nicht dasselbe wie die wunderschöne Schale aus Ebenholz, die sie im Haus hatte zurücklassen müssen, würde für ihre Zwecke aber reichen. Sie pulte mit ihren schmutzigen Fingern den Teig aus dem Knust, so lange, bis alles heraus war und eine Art Gefäß entstand.
Auf dem Boden kippte es wegen seiner Form sofort um, wenn sie es aber einbuddelte, erfüllte es auf jeden Fall seinen Zweck. Ellie lächelte. Ein weiteres Problem war gelöst. Mit wie wenig ein Mensch doch zurechtkam, wenn es sein musste.
Sie nahm ihren kleinen Schatz in die Hände und strich sanft mit den Fingern darüber. Es handelte sich um ein kleines Stück Stoff, herausgerissen aus einem karierten Hemd. Als sie Hans das Geschenk vor die Haustür gelegt hatte, hatte sie die Stalltür unverschlossen vorgefunden und war hineingegangen. Darin war es dunkel und warm gewesen, und die Pferde hatten sie mit ihren großen schwarzen Augen angeglotzt. Ellie mochte keine Pferde, hatte sogar Angst vor ihnen. Deshalb hatte sie sich auch nicht weit in den Stall hineingetraut. Neben der Tür hingen an der Wand einige Kleidungsstücke: Jacken, Hosen, Hemden. Sie hatte das karierte Hemd nur anfassen müssen, um zu spüren, dass es ihrem Jungen gehörte. Auch jetzt konnte sie die Energie, seine Energie, darin spüren. Sie legte es in das ausgehöhlte Brot. Es passte perfekt hinein. Na also! Die Energie darin würde sie nutzen müssen, hatte sie doch in seinen Augen gesehen, dass er noch nicht so weit war. Sie nahm es ihm nicht übel, zu viele Jahre hatte er in dieser anderen, fremden Welt verbracht, sodass seine eigene Mutter für ihn eine Fremde geworden war. Das Band der Liebe aber war noch vorhanden. Es
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