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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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machte kaum Pausen, aß wenig. Denn solange sein Körper aktiv war und sein Kopf sich auf die gewohnte Arbeit konzentrieren durfte, konnte er es halbwegs ertragen. Aber wehe, er setzte sich hin, um etwas zu trinken, wehe, er nahm sein Mittagessen allein in der Küche ein, wehe, er versuchte abends vor dem Fernseher abzuschalten. Dann schlugen Erinnerung und Befürchtung gemeinsam mit starker Hand zu, dann flammten Bilder in seinem Kopf auf, vor denen er Angst hatte.
    In die Kanzlei fuhr er nicht, führte nur ein einziges, nicht
sehr langes Telefonat mit Oltmanns. Darin erklärte er seine Situation, die der Alte natürlich schon kannte, und ließ sich auf unbestimmte Zeit beurlauben. Sebastian bat nicht darum, er verlangte es. Oltmanns zeigte Verständnis und gab den Fall Trotzek an einen erfahrenen Kollegen weiter. Er bot auch seine Hilfe an, jederzeit und uneingeschränkt. Trotzdem war Sebastian sich sicher, dass seine Stelle in der Kanzlei hinfällig war. Traurig stimmte ihn das nicht. Wahrscheinlich würde er sowieso nicht mehr dorthin zurückkehren.
    Er verließ den Hof nur für die Besuche im Krankenhaus bei Anna, Saskia und Uwe. Saskia ging es schon besser, auch wenn ihr Lächeln matt und ihre Augen ohne Glanz waren. Annas Zustand veränderte sich hingegen nicht. Trotzdem war der behandelnde Arzt zuversichtlich, da ihre Vitalwerte sich stabilisiert hatten und es keine Entzündungen gab.
    Am Freitag, dem dritten Tag nach Sebastians Rückkehr auf den Hof, fand Edgars Beerdigung statt. Durch diesen Tag musste er sich allein kämpfen, denn Saskias Arzt hatte trotz ihrer anstehenden Entlassung davon abgeraten, sie einer solchen Situation auszusetzen. Körperlich sprach kaum etwas dagegen, psychisch würde sie es aber wahrscheinlich nicht durchstehen.
    Der Tag war eine Qual. Jede Minute dehnte sich bis zur Unerträglichkeit, und je näher der Zeitpunkt der Abfahrt rückte, desto sehnlicher wünschte Sebastian, er könne sich wie ein kleiner Junge, für den das Wort Verantwortung noch keine Bedeutung hat, unter seine Bettdecke verkriechen. Derwitz rückte mit einem riesigen Aufgebot an. Eine große Zahl bewaffneter und mit Sprechfunk verbundener Beamter in Zivil sicherten den kleinen Friedhof von Bentlage
und die nähere Umgebung ab. Sie hofften, Ellie Brock würde sich während der Beerdigung zeigen, doch den Gefallen tat sie ihnen nicht. Sie zeigte sich auch nicht auf dem Schneiderhof, der nur zur Tarnung verwaist war, auf dem sich aber sieben Beamte versteckt hielten. Die Unruhe im Ort war groß und auch für Sebastian spürbar, obwohl er mit kaum jemandem sprach und es im Anschluss an die Zeremonie auf dem Friedhof auch keine Zusammenkunft gab. Ob die Leute dafür Verständnis hatten oder nicht, war ihm herzlich egal. Bis zu dem Zeitpunkt, da er die kleine Schippe in den Erdhaufen neben dem offenen Grab stach, sie mit dunkler, feuchter Muttererde füllte und diese auf den Sarg seines Vaters warf, war sich Sebastian seiner Gefühle nicht sicher gewesen. Nachdem er Edgar diese letzte Ehre erwiesen hatte, war er es. Anna und Edgar waren seine Eltern! Sie mochten ihn belogen haben, hatten ihm gleichzeitig aber auch ein normales, behütetes Leben ermöglicht. An Edgars offenem Grab gab es nichts zu verzeihen, eher musste er seinen Vater um Verzeihung bitten dafür, in jener Nacht nicht da gewesen zu sein, ihm nicht zur Seite gestanden zu haben.
    Der Nachmittag, der auf die Beerdigung folgte, war eine Katastrophe. Sebastian fand einfach nicht die Kraft, sich in die gewohnte Arbeit auf dem Hof zu stürzen. Er wäre gern allein in die Wälder geritten, nur er und sein alter Freund Falco, so wie früher, doch die Beamten waren dagegen. Sie konnten nicht reiten. Aus Frust strich Sebastian die Schuppenwand, verdeckte mit weißer Farbe den Blutfleck vom Blut seines Vaters. Das gab ihm den Rest. Abends saß er vor dem Fernseher und betrank sich. Nach einer halben Flasche Whiskey verstand Sebastian, warum es so beliebt bei den Menschen war, Probleme im Alkohol zu ertränken –
es funktionierte wunderbar und ohne große Anstrengung. Vor dem laufenden Fernseher kippte er irgendwann einfach auf die Seite und schlief auf der Couch ein.
     
    Im rötlichen Schein des kleinen Feuers betrachtete sie ihre zerschundenen, schmerzenden Finger. Sämtliche Nägel waren entweder abgebrochen oder eingerissen, einer gar so tief, dass der Dreck ins Nagelbett eingedrungen war und eine Entzündung verursacht hatte. Der Finger pochte schmerzhaft,

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