Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
dauert.«
»Gut … gut … und sei bitte vorsichtig, bitte.«
»Ich verspreche es dir. Und jetzt schlaf ein. Du musst schlafen, damit ich dich bald hier rausholen kann.«
Saskia nickte mit geschlossenen Augen. Zwei Sekunden später war sie eingeschlafen. Ihr Gesicht wirkte plötzlich zart, wächsern und völlig entspannt. Ruhig und gleichmäßig ging ihr Atem. Das war genau die Art von Schlaf, die er jetzt auch brauchen könnte, dachte Sebastian, küsste noch einmal ihre Hand und legte sie auf das Bettlaken zurück.
Auf dem Gang vor der Zimmertür blieb er stehen. Seine Beine begannen zu zittern, ihm wurde heiß, Schweiß trat ihm aus sämtlichen Poren. Er stützte sich mit beiden Händen gegen die Wand, ließ den Kopf zwischen die Schultern
sinken, atmete tief ein und aus. Dabei spürte er die Blicke des Beamten, der Saskia bewachte, in seinem Rücken, aber es war ihm egal. Drinnen bei Saskia hatte er sich noch stark gefühlt, doch sobald die Tür ins Schloss gefallen war, war es damit vorbei.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Sebastian drehte sich um. Es war der Beamte. Ein Mann an die fünfzig mit etwas zu viel Gewicht, der nicht so aussah, als könne er wirklich jemanden beschützen. Aber der erste Eindruck konnte ja täuschen.
»Es geht schon, danke.«
»Hauptkommissar Derwitz wartet in der Halle auf Sie«, sagte der Beamte.
»Ja … gut, danke.«
Sebastian drehte sich um und ging den Gang hinunter zu den Fahrstühlen. Als er im Erdgeschoss aus der Kabine trat, sah er Derwitz in der großen Halle in der Wartezone sitzen. Er mochte den Mann noch immer nicht, wahrscheinlich würde sich das auch nie ändern, er strahlte einfach zu viel Arroganz und Negativität aus. Trotzdem, er hatte sich angeboten, ihn nach Hause zu fahren, und da Sebastians eigener Wagen längst von einem Beamten zum Hof gebracht worden war, musste er Derwitz’ Angebot wohl annehmen. Vielleicht würde eine gehörige Standpauke damit verbunden sein. Der Kommissar hatte schon in der Nacht lautstark zum Besten gegeben, wie blöd es gewesen sei, allein in das Haus zu stürmen, und dass die Brock vielleicht längst hinter Schloss und Riegel sitzen würde, wenn Uwe und er sich an Derwitz’ Anweisung gehalten hätten.
Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Derwitz stand auf und kam ihm entgegen. Seine Hände
steckten wie immer tief in den Taschen seines zerknitterten Mantels. Wie jeden Tag, seitdem Sebastian ihn kannte, sah er müde und abgekämpft aus. Der Mann bekam einfach nicht genug Schlaf.
»Wie geht es Frau Eschenbach?«, fragte er.
»Sie schläft.«
Mehr wollte Sebastian nicht dazu sagen. Schweigend verließen sie das Krankenhaus, schweigend saßen sie auch eine ganze Weile nebeneinander im Wagen. Erst als der Verkehr außerhalb der Stadt ruhiger wurde, nahm Derwitz ihm die Bürde des ersten Wortes ab.
»Tut mir leid … das alles«, sagte er.
Was für eine Überraschung! Keine Vorhaltungen, keine Standpauke, keine Androhung von Sanktionen. Da klang sogar Mitgefühl in Derwitz’ Stimme. Hatte er vielleicht endlich eingesehen, dass auch er Bockmist gebaut hatte, indem er zu lange nicht an die böse Mutter im Hintergrund geglaubt hatte?
»Danke«, antwortete Sebastian.
Die Reifen sangen auf dem Asphalt. Bäume flogen an den Seitenscheiben vorbei.
»Interessieren Sie die Neuigkeiten?«, fragte Derwitz nach einer Weile.
»Natürlich.«
»Dieses Haus, Ihr früheres Elternhaus, gehörte einer Mechthild Kreiling. Eine alte Dame ohne Verwandtschaft, kaum Kontakt zum Umfeld. Wir fanden ihre Leiche im Garten vergraben.«
»Wie lange war sie schon dort?«
»Das wissen wir nicht genau, aber sicher länger als zwei Wochen. Wie es aussieht, hat sie die alte Dame eine Zeit lang gepflegt.«
»Wie bitte? Gepflegt?«
»Ja. Davon versteht sie etwas. Ellie Brock wurde vor vier Jahren als geheilt aus einer Klinik bei Nürnberg entlassen. Sie begann damals eine Ausbildung zur Altenpflegerin und lebte während dieser Zeit in einer betreuten Wohngemeinschaft. Wie wir erfahren haben, war sie auch dort nicht auffällig, hat sich gut eingefügt, hat auch die Ausbildung mit Bravour gemeistert und abgeschlossen. Kurz darauf ist sie aus der Wohngemeinschaft ausgezogen. Sie war von da an niemandem mehr Rechenschaft schuldig und wurde auch nicht mehr beobachtet. Eine der Betreuerinnen half ihr bei ihrem Umzug in eine kleine Wohnung am Stadtrand von Nürnberg, das war der letzte Kontakt. Hier verliert sich
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