Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
die Spur.«
»Und führt direkt zu mir.«
»Sieht so aus, ja. Sie hat jedenfalls nicht viel Zeit verloren. Es scheint so, als wäre das immer ihr Ziel gewesen.«
»Aber wie konnte sie mich überhaupt finden?«
»So schwer war das nicht. Ellie Brock hat außer Ihren Eltern … ich meine außer ihrer Schwester Anna … keine anderen Verwandten. Sie wird sich auf den Weg hierher gemacht haben, weil sie keinen anderen Anhaltspunkt hatte oder weil sie vermutete, dass ihre Schwester Sie damals adoptiert hat. Zumindest war der Schneiderhof für sie ein Ziel, und dort hat sie Sie dann entdeckt.«
Derwitz hatte recht. So konnte es gewesen sein – rein logisch betrachtet! Aber diese Blutzeichnungen, Saskias Finger in der Schale, seine Anfälle; das alles war jenseits jeder Logik, und Sebastian konnte sich gegen den Verdacht nicht wehren, dass Ellie Brock ihn auf einem anderen Weg gefunden hatte. Darüber wollte er mit Derwitz aber nicht sprechen.
»Ja«, sagte er deshalb, »so wird es wohl gewesen sein.« Und nach einer Weile, als sie durch Bentlage kamen und den Weg den Hügel hinauf nahmen: »Und wie soll es jetzt weitergehen?«
»Nun … wir werden sie fassen, früher oder später. Bis dahin bleiben zwei Beamte auf Ihrem Hof in Wechselschicht, Tag und Nacht. Hören Sie auf die Kollegen, und unternehmen Sie keine Alleingänge. Allzu lange wird es sicher nicht dauern.«
»Sie könnte aber auch untertauchen. Jahre könnten vergehen, bevor sie den nächsten Versuch unternimmt, ihren Sohn zurückzubekommen. Soll ich so lange mit der Angst leben?«
Derwitz zuckte mit den Schultern. »Es wird nicht lange dauern, da bin ich sicher. Niemand kann in diesem Land spurlos verschwinden. Eine Person wie Ellie Brock schon gar nicht. Außerdem ist sie nicht zurechnungsfähig. Ich glaube nicht, dass sie so viel Zeit verstreichen lassen wird. Ihre Handlungen sind zwanghaft, so etwas kann man nicht mal eben abschalten. Nein, nein, in ein oder zwei Wochen sitzt sie hinter Gittern, glauben Sie mir. Letztlich wird ein ganz profaner Zwang sie aus der Deckung scheuchen.«
»Aha. Und welcher?«
»Hunger«, sagte Derwitz und grinste verschlagen. »Auch Ellie Brock muss essen.«
Der Hunger brachte sie um den Verstand. Seit Stunden und Stunden hatte sie nichts mehr gegessen, bei jeder Bewegung, jedem Atemzug fuhren scharfe Krallen in ihren Magen und rissen tiefe Löcher hinein. Sie hatte nicht gewusst, dass Hunger solche Auswirkungen auf den Körper haben kann. Seit einiger Zeit war ihr Blick getrübt, sie
sah in größerer Entfernung nur noch Schemen, zudem zitterten ihre Hände stark, und ihre Beine wollten ihren Körper nur noch kurze Strecken am Stück tragen. Anfangs war sie ohne Unterlass gelaufen, tief in den Wald hinein, trotz vieler Stürze, trotz der Äste, die ihr Wunden ins Gesicht rissen. Sie hatte all das kaum wahrgenommen, war viel zu berauscht gewesen von seinem Anblick.
Hans! Ihr Hans!
Und wie gut er ausgesehen hatte. Ein wirklich hübscher junger Mann, sie konnte stolz auf ihn sein! Zwar war es dunkel gewesen in dem Zimmer, aber das Licht seiner Taschenlampe hatte ausgereicht, sein Gesicht deutlich sehen zu können. Seit damals, als man ihn ihr aus den Händen gerissen hatte, als sie über ihr behagliches Nest im Wald hergefallen waren, hatte sie ihren Hans nicht mehr aus der Nähe gesehen. Trotzdem gab es nicht den Hauch eines Zweifels, zu deutlich war die Ähnlichkeit. Das hübsche blonde Haar, die kleinen Ohren, die schlanke Nase und die ehrlichen blauen Augen. Seine Augen, o ja, es war ihr als Mutter ein Leichtes gewesen, darin zu lesen. Er hatte sich erinnert, hatte sie erkannt. Hatte die Liebe gespürt, die zwischen ihnen war und niemals enden würde. In dieser Sekunde, da er die Waffe auf sie gerichtet hatte, waren sie sich ein unschätzbares Stück nähergekommen. Und wenn nicht die Situation sie zur Flucht gezwungen hätte, wäre ihre Zusammenkunft dort vollendet worden. So aber musste sie noch ein wenig warten. Es fiel ihr nicht leichter, jetzt, wo sie in seine Augen gesehen hatte. Liebe und Sehnsucht brannten nun so stark wie nie in ihrem Inneren.
Doch im Moment war der Hunger stärker!
Sie konnte ihrem Hans nicht helfen, wenn sie nichts zu essen bekam. Deshalb hockte sie auf Knien an einen
Baum gelehnt im Unterholz und beobachtete das Treiben dort vorn. Es war noch früh, die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Menschen dort in der Bäckerei arbeiteten aber schon eine ganze Weile. Der Duft nach
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