Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Gestalt, deren Hinterbacken über die Sitzfläche des Stuhls hinausquellen. Der staubbedeckte Schirm einer großen Lampe hängt tief über dem Tisch, doch sie bleibt kalt und ungenutzt. Dreizehn neue Kerzen stehen zu einem nach vorn offenen Kreis angeordnet auf der Tischplatte, mit ihrem eigenen Wachs befestigt. Ein brennendes Streichholz, die einzige Lichtquelle im Raum, wird langsam an die dreizehn Dochte geführt, nach und nach wird es heller. Die dicken Finger zucken nicht zurück, als die Flamme das Ende des Streichholzes erreicht. Schließlich brennen alle Dochte. Die zunächst unruhigen Flammen gebären zuckende Schatten und geisterhaftes Licht. In des Kreises Mitte steht eine flache Schale aus dunklem Holz, grob geschnitzt, mit vielen Kanten und Riefen, die Arbeit eines Ungeübten. Sie ist zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Eine fleischige Hand greift durch die Öffnung im Kreis und zieht die Schale heraus. Die linke Hand wird über die Schale geführt. Die saubere Klinge eines Küchenmessers zieht über die Handfläche und hinterlässt eine kurze, klaffende Wunde, aus der sofort Blut quillt. Es tropft von der Hand in die Schale, bis das Wasser dunkelrot verfärbt ist. Schließlich wird die Wunde mit einem Pflaster bedeckt.
Die rechte Hand ergreift einen kurzen Stößel, ebenfalls aus dunklem Holz und genauso grob bearbeitet wie die Schale, taucht ihn in die Wasser-Blut-Mischung und rührt vorsichtig. Dann zeichnet sie mit dem Stößel auf der weißen Tischplatte im Kreis der Kerzen. Immer wieder taucht sie den Stößel ein und malt.
Zuerst einen großen Kreis, dessen Durchmesser dem des Kerzenkreises nahe kommt. Auf diesen Kreis zeichnet sie vier gleichschenklige Dreiecke, mit einer zu den Kerzen zeigenden, offenen Seite. Die Abstände zwischen den Dreiecken sind identisch, sie sind gleichmäßig auf dem Kreis verteilt. In den Kreis wird ein weiterer, wesentlich kleinerer gezeichnet. Die Spitzen der Dreiecke zeigen darauf. Zum Schluss werden zwei Striche in den kleinen Kreis gemalt; sie sehen aus wie Wellen und liegen dicht beieinander.
Der Stößel wird beiseitegelegt, in den kleinen Kreis mit den Wellen wird die Schale gestellt, ihr Boden verdeckt ihn gänzlich. Die Gestalt führt ihre Hände über die Schale und taucht alle Finger, bis auf die Daumen, in die Flüssigkeit. Leiser Sprechgesang setzt ein. Rhythmisch, mal lauter, mal leiser. Die Gestalt beginnt, ihren Oberkörper zu wiegen. Die Flammen der Kerzen, die zuvor völlig ruhig gebrannt haben, flackern auf.
Die massige Gestalt lächelt.
Im Zimmer herrschte nun Stille, untermalt nur von den Geräuschen des alten Hauses. Sebastian Schneider lag angezogen auf seinem Bett, die Arme unter dem Kopfkissen verschränkt, und starrte zur Zimmerdecke hinauf. Eine geraume Zeit starrte er sie bereits an, natürlich ohne sie zu sehen, denn sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Für des Menschen Geist waren Mauern oder Dächer manchmal
kein Hindernis. Während er das Zimmer verlassen hatte, und auf Wanderschaft gegangen war, war nach und nach das Tageslicht gewichen, Schatten hatten sich hereingeschlichen, er hatte seine Eltern zu Bett gehen hören – aber all das hatte seine Gedanken nur gestreift, war nicht wirklich zu ihm durchgedrungen. Erst als seine Arme ob der unnatürlichen Haltung zu schmerzen begannen, kehrte er in seinen Körper zurück. Schließlich stand er auf, ging zu dem kleinen Bord neben der Tür, auf dem er seine Brieftasche aufbewahrte, holte das kleine Kärtchen daraus hervor und legte sich wieder aufs Bett. Er knipste die Leselampe an, betrachtete die Karte.
Es handelte sich um die Visitenkarte von Saskia Eschenbach, die sie ihm im Krankenhaus mit den Worten: Falls noch was sein sollte , gegeben hatte. Sebastian bildete sich ein, zwischen jedem dieser fünf Worte eine breite Lücke gehört zu haben, in der alles Platz fand, was seine Fantasie hineinhören wollte.
Von Beruf war sie Innenarchitektin, offensichtlich selbstständig. Die Nummer ihres Handys war abgedruckt, außerdem ihre Adresse und die Festnetznummer.
»Saskia Eschenbach.«
Er flüsterte ihren Namen in die Stille seines Zimmers, rief sich dabei abermals ihr Gesicht in Erinnerung. Diesmal nicht das entsetzliche, tote, sondern das Gesicht auf dem weißen Kopfkissen des Krankenbettes, eingerahmt von ihrem schwarzen Haar, einzigartig durch die dunklen, lebendigen, tiefgründigen Augen. Mit vielem hatte Sebastian gerechnet, als er am Vormittag ins Krankenhaus gefahren
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