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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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des Waldemar Trotzek.
    Sebastian legte den Bericht zur Seite und seufzte. Dann nahm er das Telefon zur Hand, rief die Sekretärin der Kanzlei an und bat sie, für Montag einen weiteren Termin in der J VA zu vereinbaren.

Samstag
    Mit zitternder Hand spannte sie das violette Blatt Papier in die kleine Reiseschreibmaschine ein. Sie justierte es, setzte den Druckkopf auf den Beginn der ersten Zeile – und verharrte. Die Worte! Wo waren nur all die Worte hin? Die ganzen Jahre über waren sie wieder und wieder durch ihren Kopf gegeistert, hatten keine Ruhe gegeben, sie in manchen Nächten derart gequält, dass sie beinahe ihren Verstand darüber verloren hätte.
    Sie nahm ihren Blick von dem verhexten Blatt Papier, so rein, so unschuldig, so quälend. Durch den Spalt in der Gardine sah sie zum Garten hinaus. Helles Sonnenlicht belebte die ohnehin kräftigen Farben des frühen Sommers, zerrte die letzten Knospen aus ihren Verstecken. Drückend warm war es da draußen, hier drinnen in der Küche nicht viel kühler. Schweiß stand auf ihrer Oberlippe, auf der Stirn, das Hemd war unter den Achseln und am Rücken unangenehm feucht. Sie mochte den Sommer nicht, hatte ihn noch nie gemocht, er brachte alles ans Licht, badete alles darin. Sein Licht fraß die frühen Schatten des Abends, in denen es kühl und geheimnisvoll war. Die langen Nächte des Winters waren ihr lieber.
    Oh, warum war es nur so schwer! Dabei hatte sie doch geglaubt, das Schwerste bereits hinter sich zu haben. Und jetzt? Jetzt war sie ihrem Ziel so nahe, war ihm so nahe wie seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr, hatte die Fesseln abgestreift und fühlte sich trotzdem nicht frei. Ihn zu
sehen, auf dem Rücken des Pferdes über die Weiden gleiten zu sehen, dieser Anblick hatte die Macht besessen, Tausende Risse ihres Herzens zu kitten. Hatte die tiefe, niemals erlöschende Mutterliebe aus ihrem Käfig befreit.
    Und trotzdem wollten die Worte nicht fließen, fiel ihr nichts anderes ein als immer wieder dieser alberne Kinderreim. Das war so ungerecht, so …
    Schon wieder das dumpfe Pochen!
    Nun, da war es ja kein Wunder, wenn sie sich nicht konzentrieren konnte! Wann würde die Alte endlich mit dem Klopfen aufhören! Musste sie es denn unbedingt auf die Spitze treiben!
    Sie legte die beiden Zeigefinger auf die Buchstaben H und Ä, verharrte kurz, tippte sie dann ein und ließ die restlichen folgen. Warum nicht? Sie konnte doch durchaus wieder mit dem Reim beginnen, immerhin war es ihr Reim, und wenn er erst mal auf dem Papier stand, dem Papier seine Blendkraft genommen hatte, würden die anderen Worte schon noch folgen. Von ganz allein würden sie dann aus ihrem Herzen über die Finger aufs Papier fließen.
    Poch, poch.
    Ihr Blick flog zur Zimmerdecke.
    Nein, so ging das nicht! Wenn die Alte weiterhin klopfte, würde sie nicht einmal den Reim niederschreiben können. Sie hatte doch nach dem Frühstück ihre Spritze bekommen. Warum war die Kuh noch immer so fidel? Hatte ihr Körper sich bereits an das Medikament gewöhnt? So schnell?
    Poch, poch.
    Sie sprang auf, wuchtete ihr immenses Körpergewicht empor, der Stuhl kippte um und fiel klappernd auf das alte Linoleum.

    »So geht das nicht, so geht das einfach nicht!«
    Sie wischte sich übers Kinn, spürte den Speichel auf ihrem Handrücken. Wenn sie aufgeregt war, flossen Speichel und Schweiß in Strömen. Mit wuchtigen Schritten stürmte sie aus der Küche in den Flur und die Treppe hinauf. Das Geländer bog sich zu ihr, als sie sich daran emporzog. Oben angekommen riss sie die Tür zum Schlafzimmer auf.
    »Frau Kreiling, so geht das nicht! Ich kann mich nicht dauernd um Sie kümmern. Ich habe noch andere Dinge zu erledigen. Wichtige Dinge!« Ihre Stimme war ein einziges wütendes Kreischen.
    »Ich will endlich raus, lassen Sie mich in meinen Garten!«, keifte die alte Kuh zurück.
    Mitten im Raum im Rollstuhl sitzend stampfte sie mit dem Fuß auf wie ein kleines, trotziges Kind.
    »Sie sind noch nicht gesund.«
    »Doch, ich bin gesund, es sind Ihre Spritzen, die mich krank machen. Verlassen Sie endlich mein Haus. Ich verkaufe es Ihnen nicht, niemals. Lassen Sie mich in meinen Garten.«
    »Gar nichts sind Sie. Sie brauchen Ihre Spritze!«
    »Nein!«, kreischte die alte Frau in ohrenbetäubender Lautstärke. »Keine Spritze mehr!«
    Das Schellen der Türglocke folgte auf den Schrei, sodass sie es im ersten Moment gar nicht wahrnahm. Mechthild Kreiling schon.
    »Hilfe!«, schrie sie.
    Mit einer schnellen,

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