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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Steigbügel auf den hohen Pferderücken kam, wo sie sich dabei festhalten und wie sie ihr Gewicht verlagern musste. Falco stand still und hielt den Kopf so, dass er sehen konnte, was an seiner Flanke vorging. Sebastian beruhigte sowohl ihn als auch Saskia, und erst als beide etwas lockerer waren, führte er sie zweimal durch die gesamte Koppel.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte er danach.
    Saskia strahlte. »Einfach toll!«
    Sebastian half ihr herunter. Sie wirkte erleichtert und glücklich zugleich, fast wie ein kleines Mädchen, das eine Mutprobe hinter sich gebracht hatte und nun meinte, die ganze Welt aus den Angeln heben zu können.
    »Für das erste Mal nicht schlecht«, lobte er sie.
    Wenig später saßen sie jenseits der Zäune auf der Kuppe des Hügels. Über ihnen raunte der zunehmende Wind durch die Äste der Kiefern. Aus dem Dorf klang dünn das Geläut der Kirchenglocke. Neunzehn Uhr. Der Nachmittag war vorüber. Sie waren verschwitzt und müde, die drückende Hitze machte ihnen zu schaffen.
    Eine Weile verbrachten sie schweigend. Sebastian war nicht nach reden, und er meinte zu spüren, dass Saskia ebenso empfand. Jedes Wort hätte den Zauber des Augenblicks zerstört. Sie waren allein, die restliche Welt schien weit entfernt, ihr Alltag mit all seinen Sorgen und Nöten
war nicht existent. Auf dieser weichen Kuppe schienen sie wie in einem Traum über allem anderen zu schweben, losgelöst, schwerelos, nur noch die Gegenwart des anderen spürend.
    Als Saskia sich ausstreckte und die Augen schloss, betrachtete Sebastian sie ohne Scheu – ihren schlanken Körper, die braune Haut, das schwarze Haar – und als sie die Augen öffnete, sah er nicht weg. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, reckte ihm ihr Gesicht entgegen. Ihre Lippen fanden sich. Die ihren waren warm, salzig und weich. Sie roch nur noch nach Saskia, nicht mehr nach irgendwelchen Parfums oder Lotions. Nach einem kurzen Moment der Zurückhaltung öffnete sie ihre Lippen, tastend fanden sich ihre Zungen. Sebastian schloss seine Arme um ihre Taille und zog sie heran.
    Ein heftiger Windstoß fuhr in die Bäume über ihnen. In der Ferne grollte die noch leise Stimme des Gewitters.
     
    Ein heftiger Donnerschlag riss Sebastian aus dem Schlaf. Sofort war er hellwach, hörte deutlich, wie sich die wütende Stimme des Riesen grollend in die Ferne zurückzog. Er richtete sich auf und sah zum Fenster. Wegen der drückenden Wärme hatte er beide Flügel weit geöffnet und die Vorhänge zurückgezogen. Geisterhaft bewegten sie sich nun in dem kühlen Luftstrom, wurden aufgebläht, griffen wie Finger tief in den Raum. Der nächste Blitz erhellte das Zimmer für den Bruchteil einer Sekunde, riss die Möbel aus dem Dunkel, zeichnete scharf umrissene Schatten. Sebastian zählte, so wie Edgar es ihm als Kind beigebracht hatte. Der Schall legt in der Sekunde dreihundertdreiunddreißig Meter zurück. Teilt man das Ergebnis des Zählens durch drei, ergibt dies die Entfernung in Kilometern.

    … einundzwanzig … zweiundzwanzig … dreiundzwanzig …
    Diesmal grollte der Donner langsam anschwellend aus der Ferne heran, schlug brüllend über dem Haus zusammen und entfernte sich nur widerwillig.
    Sechs Sekunden. Zwei Kilometer. Ziemlich nah!
    Sebastian schwang die Beine aus dem Bett und trat ans Fenster. Sofort kühlte der Luftstrom seine erhitzte Haut, und ein Frösteln lief seine Wirbelsäule hinab. Der Himmel war eine tiefschwarze Hölle, undurchdringliche Dunkelheit lauerte zwischen Haus und Stallgebäude. Die Welt existierte nur noch in den bizarren Ausschnitten der Blitze – und im Geruch. Da es noch nicht zu regnen begonnen hatte, roch die Luft intensiv nach Staub und Ozon. In den Eichen hinterm Haus fauchte die Stimme des aufkommenden Sturms, raschelte und knackte es in den alten Kronen. Ein besonders greller Blitz ließ ihn zusammenzucken. Der Donner erschütterte den Holzboden unter seinen Füßen. Sebastian schloss das Fenster und zog sich an.
    Er hatte Angst!
    Abgesehen von den Eichen hinter dem Haus bildete der Schneiderhof die höchste Stelle in dieser Gegend. Geografisch gesehen überragte er sogar noch den Adlerrücken. Drei Blitzableiter waren über die gesamte Länge des Daches verteilt, aber nicht einmal die hatten das Haus damals schützen können. Bei jedem Gewitter kehrte die Erinnerung daran zurück. Er war zehn gewesen, und in einer ähnlich heftigen Nacht war der Blitz in die Fernsehantenne eingeschlagen. Die Spannung hatte alle

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