Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
schwersten Gewittersturm der letzten Jahre nachts im Wald mit einem Schäferhundrüden zu kämpfen und ihn mit einer Mistgabel zu erstechen, dazu war der alte Tiermann nicht in der Lage. Er war mittlerweile weit über siebzig und schon lange nicht mehr bei bester Gesundheit. Edgar hatte sogar gehört, sein alter Rivale sei an Prostatakrebs erkrankt.
Er schüttelte den Kopf. »Ich traue dem alten Tiermann eine Menge zu, aber das nicht.«
»Vielleicht einer seiner Söhne?«, gab Uwe Hötzner zu bedenken.
»Vielleicht! Aber die letzten Jahre war Ruhe. Warum sollten die plötzlich wieder anfangen? Und warum diese unnütze Brutalität? Der Hund war doch gar nicht auf ihrem Land unterwegs, nicht einmal auf dem Stück, das die Tiermanns immer noch als ihres betrachten. Auch Hass
verliert nach Jahren an Kraft. Nein. Ich glaube nicht, dass es einer von denen war.«
Uwe Hötzner stand da, blickte in den Wald und sagte lange Zeit nichts. Edgar sah ihm an, wie es in seinem Kopf brodelte. Uwe mochte mit seinen vierzig Kilo Übergewicht und der Stirnglatze unbeweglich und dumm wirken, aber wie so oft im Leben hatte der erste Anschein wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, von der ersten bis in die zehnte Klasse, und Edgar wusste besser als jeder andere, dass Uwe nicht dumm war. Dessen Noten waren stets um einiges besser gewesen als seine.
»Weißt du, was mir richtig Sorgen bereitet?«, fragte Uwe schließlich.
»Was?«
Er sah seinen alten Schulkameraden an.
»Dass das einer geplant hat. Jemand versucht, bei dir einzubrechen, es misslingt, er stiehlt eine Mistgabel, wartet ein paar Tage ab, kommt während eines schlimmen Gewitters wieder und benutzt die gestohlene Mistgabel, um euren Hund zu töten. Das geschah nicht im Affekt oder aus der Not heraus. Wer immer das getan hat, verfolgt ein bestimmtes Ziel.«
»Aber welches?«
»Das weiß ich nicht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die Tötung des Hundes nicht das eigentliche Ziel war, denn das hätte der Täter ja auch einfacher haben können. Ein Fleischbrocken mit Gift in den Zwinger geworfen hätte das gleiche Ergebnis gebracht, aber ohne das Risiko, vom Hund gebissen oder vom Blitz erschlagen zu werden. Nein, da steckt etwas anderes dahinter. Ist dir denn nichts aufgefallen? Irgendwas Ungewöhnliches in der letzten Zeit?«
Edgar zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, was …«
Er brach ab und starrte Uwe an.
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht, vielleicht … Hast du noch ein paar Minuten Zeit?«
»Natürlich.«
»Wir fahren zum Hof. Ich muss dir was zeigen.«
Annas Tränen waren erst vor Kurzem versiegt, und sie hatten deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihre Augen waren gerötet und verquollen, ständig musste sie sich die triefende Nase putzen. Außerdem hatte sich ein nervöses Zucken in ihrem rechten Mundwinkel eingenistet. Sie spürte es und wusste, dass Uwe es anstarrte, konnte aber trotzdem nichts dagegen tun. Zögerlich, immer wieder stockend, hatte sie zu erzählen begonnen. Sperrig zunächst die Worte und Sätze, mit zunehmender Dauer aber flüssiger. Was für immer verschwiegen bleiben sollte, wurde nun doch offenbart, und Anna wunderte sich, wie frisch Eindrücke sein konnten, die mehr als zwanzig Jahre zurücklagen.
Sie saß neben Edgar auf der Eckbank, ihr gegenüber Uwe Hötzner, dessen große Hände auf dem zerknitterten Brief vor sich auf der Tischplatte ruhten, den Anna erneut aus dem Müll geholt hatte.
»Peter hat mir damals alles erzählt, wir kamen ja sehr gut miteinander aus. Ich weiß noch, wie froh ich war, dass meine Schwester einen so guten Mann gefunden hatte. Als sie dann schwanger wurde, war er aber leider überfordert. Nicht mit der Schwangerschaft an sich, darüber hat er sich gefreut wie ein kleiner Junge, aber mit der Art, wie Ellie
sich veränderte, kam er nicht zurecht. Für mich war es leichter, ich kannte ihre merkwürdigen Wesenszüge ja schon aus unserer Kindheit … Ellie war nie einfach gewesen. Aber ich glaube, ich war auch überfordert mit ihr, sonst hätte ich ja etwas gemerkt. Nachher ist man immer klüger, aber damals dachte ich wirklich, das legt sich wieder, Schwangere tun eben merkwürdige Dinge.«
»Was für merkwürdige Dinge?«, fragte Uwe. »Mitten in der Nacht saure Gurken essen?«
Anna sah ihn an und seufzte. »Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre …«
Sie machte eine Pause, und an ihren Augen konnte Uwe erkennen, wie sie in den
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