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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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haben über einen Postraub nachgedacht«, sagte Uwe, bevor Edgar oder Anna in Verlegenheit kamen zu lügen. Die Wahrheit war selten etwas für Zumweits Ohren, der als lebende Tageszeitung bekannt war.
    »Na dann, viel Glück. Bei mir ist aber nichts zu holen. Siehst du ja selbst, ich muss für einen einzigen Brief den ganzen Berg rauf.«
    Zumweit reichte Edgar den Brief, verabschiedete sich, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Während das Motorengeräusch langsam verklang und eine trügerische Stille sich über den Schneiderhof legte, hielt Edgar den Brief so, dass die anderen ihn sehen konnten.
    »Er ist violett«, sagte er tonlos.
    Alle drei starrten den Brief an.
    »Mach ihn auf, fass aber den Briefbogen nicht an«, sagte Uwe leise.
    Wieso lief ihm ein Kribbeln den Rücken hinunter?
    Edgar schlitzte den Umschlag mit der scharfen Kante des Haustürschlüssels auf und gab ihn dann Uwe. Mit den Spitzen von Zeigefinger und Daumen zog Uwe den Briefbogen heraus und faltete ihn vorsichtig auseinander. Edgar und Anna lasen über seine Schultern mit.
    Hänschen klein ging allein
in die weite Welt hinein
Stock und Hut stehn ihm gut
ist ganz wohlgemut
Doch die Mutter weinet sehr
hat ja nun kein Hänschen mehr

Wünsch dir glück sagt ihr Blick
kehr nur bald zurück
Sieben Jahr trüb und klar
Hänschen in der Ferne war
Da besinnt sich das Kind
eilet heim geschwind
doch nun ist’s kein Hänschen mehr
nein ein Großer Hans
ist er braungebrannt Stirn und Hand wird
er wohl erkannt?
     
    Lieber Hans,
alles was geschehen ist und noch
geschehen wird, wirst du bald
verstehen, sehr bald. Und auch wenn es
im Moment nicht so aussieht, geschieht
doch alles aus Liebe. Dessen kannst du
dir sicher sein.
Unser altes Lied wird die Liebe auch in
dir wieder erwecken.
    In der Wohnstraße herrschte Mittagsruhe. Nirgends war ein Kind zu sehen, niemand mähte Rasen oder wusch seinen Wagen in der Auffahrt. Am Ende der Sackgasse, etwas abseits, stand das verwitterte und einsam wirkende Haus. Je länger der Postbote Karl Wohlan es aus der Entfernung betrachtete, desto unheimlicher erschien es ihm, obwohl es ja noch immer das Haus der alten Kreiling war. Nichts hatte sich geändert – außer der neuen Bewohnerin.
    Karl seufzte. Er hatte heute nur Werbung für die alte Kreiling, viel Post bekam sie ohnehin nicht. Er musste nicht unbedingt dorthin, könnte den Flyer auch morgen
ausliefern, der Kreiling war es egal. Aber etwas nagte in ihm: Neugier – und eine dumpfe Befürchtung. Außerdem war ihm die fette Kuh da oben nicht geheuer! Entfernte Verwandte! Da konnte ja jeder kommen! Heutzutage schlichen sich wildfremde Personen bei alten Menschen ein, um an deren Rente oder Erbe zu kommen, hörte man doch immer wieder. Die Menschen achteten nicht mehr auf ihre Nächsten, nur deshalb hatten solche Verbrecher überhaupt eine Chance. Aber nicht hier! Nicht in seinem Bezirk. Hier sah er nach dem Rechten. Sonst interessierte sich ja niemand für die alte Dame in dem abseits gelegenen Haus.
    Früher hatte es hier eine Reihe von Mietgaragen gegeben, in den Siebzigern, wenn er sich richtig erinnerte. Die waren irgendwann überflüssig geworden, als die alten Bewohner der Häuser verstarben und die Erben oder Käufer anrückten. Da hatte sich jeder seine eigene Garage oder einen Carport gebaut. Die Stadt hatte die baufälligen, hässlichen Reihengaragen irgendwann abreißen lassen und das Grundstück zum Verkauf angeboten. Wahrscheinlich konnte man es noch immer erwerben, denn wer wollte schon ein hundert Meter langes, aber nur sechs Meter tiefes Grundstück? Der beste Architekt bekam da kein familientaugliches Haus drauf!
    Jetzt diente das verwilderte Gelände den Kindern als Spielplatz. Die Birken waren mittlerweile so hoch und zahlreich, dass es wie ein Wäldchen anmutete. Und eben dieses Wäldchen machte das Haus der Kreiling zu einem einsamen, abgelegenen Ort am Rande einer belebten Wohnstraße und die Kreiling selbst zu einer verschrobenen Person. Er als Postbote kannte die ganzen Vorurteile. Die Alte dahinten ist doch verrückt! Wie das Haus schon aussieht!
Und wie es erst drinnen aussehen muss! Eine Schande ist das! Die gehört ins Pflegeheim! Dabei war die alte Kreiling gar nicht senil, das wusste Karl Wohlan aus Gesprächen mit ihr. Sie war einfach nur eine alte Frau, die weder die Kraft noch die finanziellen Mittel besaß, um ihr Haus zu pflegen. Aber den Garten, den hielt sie in Schuss. In den letzten zehn Jahren war der Garten der Kreiling immer

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