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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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den Waldeingang. Sebastian duckte sich im Sattel und führte Falco hinein. Die tiefen Äste schabten über seinen Rücken. Sofort empfing ihn der würzige Geruch feuchter Nadeln und Blätter. Leichter Wind wiegte die Stämme der hohen Kiefern und ließ sie knarzen. Das Unterholz war bis auf einige Meter rechts und links des Weges gut einsehbar. Nur hier und dort versperrten einzelne Gruppen amerikanischer Traubenkirsche die Sicht. Sebastian überließ es Falco, den Weg zu finden, während er den Waldboden absuchte.
    Allzu weit musste er nicht reiten, bis er etwas entdeckte, was seine Aufmerksamkeit erregte. Ein einzelner Ast, der kerzengerade aus dem Unterholz emporwuchs. Für jemanden, der sich viel in den Wäldern aufhielt, war er leicht auszumachen, wirkte dieser Ast doch künstlich und völlig fehl am Platze. Sebastian war sich sicher, dass er bei seinem letzten Ausritt noch nicht da gewesen war. Er saß ab und band Falco an den Stamm einer Kiefer.
    Den merkwürdig geraden Ast anpeilend stieg Sebastian vorsichtig durchs Unterholz. Dabei musste er ein Gewirr von wilden Brombeerranken überwinden, die etliche tiefe Löcher und vermodernde Stämme verdeckten. Weil er sich auf den Waldboden konzentrierte, verlor er den Ast vorübergehend aus dem Blick, und als er das nächste Mal aufsah, wurde ihm schlagartig klar, worum es sich dabei handelte.
    Er erstarrte. Sein Herz schlug dumpf und erschreckend schnell. Plötzlich widerstrebte es ihm, auch nur einen
Schritt weiterzugehen. Erst das laute Aufflattern eines Vogels hoch über ihm riss ihn aus der Starre. Mühsam schleppte er sich die letzten paar Schritte dahin. Dann sah er sich seinen schlimmsten Befürchtungen gegenüber.
    Sebastians Magen drehte sich um, gleichzeitig wurde es eng in seinem Hals, und die Speiseröhre begann zu brennen. Er schluckte heftig, versuchte zu unterdrücken, was da aufsteigen wollte.
    Der Ast war ein Stiel, dessen ehemals helles, offenporiges Holz bräunlich verfärbt war. Die Zinken der Mistgabel hefteten Taifuns Körper an den Waldboden. Bis zum Anschlag waren sie in seiner Flanke verschwunden. Längst hatte sich das Kleingetier des Waldes über den Kadaver hergemacht. Die Augen waren nur noch Höhlen, in denen eine unidentifizierbare Masse wuselte. Die weichen Teile der Nase waren ebenfalls verschwunden, außerdem schien sich ein größeres Tier, vielleicht ein Fuchs, seinen Teil geholt zu haben. Beide Ohren fehlten, in der hinteren Flanke klaffte ein zerfetztes Loch, an dessen Rändern sich weißliche Würmer wanden.
    All das erkannte Sebastian in einer Sekunde. Dann war er nicht mehr in der Lage, gegen seinen Körper anzukämpfen, schaffte es gerade noch, sich von dem Kadaver, der einmal sein Hund gewesen war, abzuwenden, bevor sein Magen sich verkrampfte. Er erbrach sich über die Blätter eines wilden Vogelbeerstrauchs. Da er noch nicht gegessen hatte, kam nur gelbliche Flüssigkeit heraus, und die brannte wie reiner Essig in Mund und Hals. Noch während er vornübergebeugt dastand, überfiel ihn erneut namenlose Angst.
    Der Wald! Das Unterholz! Die tiefen Schatten zwischen den Bäumen und Büschen!

    Er ruckte hoch, sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Plötzlich kam ihm dieser Ort bedrohlich vor. Bedrohlich und verdammt weit weg vom Hof! Was, wenn der Mörder noch hier lauerte?! Wenn er darauf gehofft hatte, dass jemand kommen und nach dem Hund suchen würde?!
    Eine Gänsehaut kroch Sebastians Rücken hinauf, die feinen Haare an seinen Unterarmen richteten sich kerzengerade auf. Sein Kopf zuckte von rechts nach links, er drehte sich im Kreis, konnte aber das Unterholz mit seinen Blicken nicht durchdringen. Alles voller Verstecke, viel zu viele Verstecke! Tief in ihm begann sich seine Lunge zu verkrampfen. Ein Gefühl, als lege sich eine Hand um das Organ und quetsche es zusammen. Er riss den Mund weit auf, rang nach Luft, bekam aber nicht genug davon. Nicht genug, niemals genug!
    Während er neben seinem Erbrochenen auf die Knie sank, erinnerte Sebastian sich, dass die Asthmaanfälle ihn immer nur nachts heimsuchten. Nur nachts, wenn der Riese sich in seine Träume schlich. Es konnte also gar nicht sein, dass er hier im Wald neben seinem Hund starb! Ganz unmöglich! Kämpfen! Er musste sich auf die Beine kämpfen, den Oberkörper aufrichten, damit Luft in seine Lungenflügel strömen konnte. Ohne den Inhalator war das seine einzige Chance.
    Also kämpfte er sich hoch, stützte sich dabei an dem rauen Stamm einer Kiefer ab,

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