Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
konzentrierte sich auf die Ameisen, die an dem Stamm entlangliefen und die Oberfläche seiner Hand passierten. Die großen roten Tiere, vor denen er sich eigentlich ekelte, lenkten seine Gedanken von dem Kadaver hinter sich und dem Riesen in seinem Kopf ab. Langsam befreite sich seine Lunge aus dem Würgegriff der Panik. Als er wieder halbwegs atmen konnte, stieß Sebastian
sich von dem Kiefernstamm ab und lief los. Ohne noch einen Blick auf das zu werfen, was einmal Taifun gewesen war, rannte er durchs Unterholz, stolperte, riss sich die Unterarme an den Dornen der Brombeerranken auf, rappelte sich wieder auf, lief weiter, erreichte sein Pferd, band es los, sprang auf den Rücken des Wallachs und gab ihm die Sporen, wie er es noch nie getan hatte.
Im Galopp hetzte er zurück zum Hof seiner Eltern.
Uwe Hötzner schob seine Dienstmütze in den Nacken und strich sich mit der Hand über die Stirnglatze. Dabei spürte er den feuchten Film seines Schweißes, spürte ihn auch unter seinen Achseln und in den Falten seines dicken Bauches. Der Morgen war längst nicht warm genug für einen solchen Schweißausbruch, auch nicht im Zwangskorsett der Uniform, doch der Anblick des toten Tieres machte die fehlende Temperatur wett. Der Anblick – und der Gestank!
»Das gibt’s doch gar nicht!«, stöhnte Hötzner und schüttelte erneut den Kopf.
Edgar Schneider wandte sich ab. Er legte den Kopf in den Nacken, sah zu den leicht schwankenden Wipfeln der Bäume empor und schluckte mehrmals hintereinander. Ihm gelang, was sein Sohn nicht gekonnt hatte. Der Brechreiz verschwand vorerst. Der süßliche Verwesungsgestank allerdings blieb, heftete sich in seiner Nase fest, als wolle er dort für alle Zeiten seinen Geruchssinn belagern. Warum musste Verwesung so stinken, warum konnte sie nicht ebenso geruchlos wie still vonstattengehen?
»Und das ist wirklich deine Mistgabel?«, fragte Uwe Hötzner, der es tatsächlich schaffte, noch immer den Kadaver anzusehen; dabei wedelte er mit der Dienstmütze
vor seinem Gesicht herum, um die Fliegen zu verscheuchen.
Sie schienen sich zwischen Kadaver und menschlichem Schweiß nicht entscheiden zu können, pilgerten in schnellem Wechsel vom einen zum anderen, und Uwe Hötzner war nur zu eindringlich bewusst, was an den Beinen der kleinen Widerlinge haftete, die in seinem Gesicht zu landen versuchten.
Von Hötzner ungesehen nickte Edgar Schneider. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder, bevor er antwortete.
»Ganz sicher. Jemand hat sie bei uns aus der Tonne gestohlen.«
Oberwachtmeister Hötzner schüttelte abermals den Kopf, wiederholte flüsternd: »Das gibt’s doch gar nicht«, so als wäre es sein Mantra und Schutzschild, wandte sich schließlich von dem Kadaver ab und trat neben Edgar. Er atmete tief ein. Sein mächtiger Bauch spannte das Diensthemd bis an dessen Leistungsgrenze.
»So etwas habe ich noch nicht gesehen.«
Sie gingen einige Schritte vom Kadaver weg, bis der Verwesungsgestank erträglicher wurde. In Hötzners Fingern kribbelte es; es verlangte ihn nach einer Zigarette. Im Wald rauchen aber war etwas, was er sich als Polizist nicht erlauben konnte.
»Wer tut so etwas?«, fragte Edgar.
Eine Frage, die Uwe sich natürlich auch schon gestellt hatte. Menschen taten so etwas. Menschen waren zu allem fähig, waren zu Taten fähig, die sich niemand vorstellen konnte, bis sie dann geschahen. Ihre Grausamkeit kannte kein Maß, ihre Gefühllosigkeit kein Erbarmen. Die Evolution hatte ein Wesen hervorgebracht, das aus Sicht der Natur perfekt sein musste. Es konnte alles und jeden töten,
auf jede erdenkliche und auch nicht vorstellbare Art und Weise. Aber hier, in ihrem kleinen, friedlichen Ort, gab es diese Art Menschen doch gar nicht, oder?
»Ich kann mir niemanden vorstellen«, sagte Uwe Hötzner deshalb. »Nicht einmal den alten Tiermann.«
An den alten Tiermann hatte Edgar zuallererst gedacht, als Sebastian völlig geschockt mit dem Pferd bis fast ins Haus geprescht war und ihnen berichtet hatte. Seit ihrem unsäglichen Grenzstreit vor zwanzig Jahren hatte sich an ihrer Beziehung nichts geändert. Tiermann hatte damals vor dem Landgericht den von ihm angestrebten Prozess verloren und hatte Land, das er für sich beanspruchte, an ihn abgeben müssen. Danach hatte der Alte des Öfteren damit gedroht, Edgars Pferde zu erschießen, wenn die auch nur einen Huf auf sein Land setzen sollten. Das traute Edgar dem alten Grantler auch durchaus zu, nicht aber so etwas hier. Im
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