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Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein

Titel: Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Winkelmann
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Jahren geschafft, alles zu verlieren. Haus, Hof und Geld. Sie mussten in eine Mietskaserne in die Stadt ziehen, fanden keine Arbeit, verloren ihren Stolz. Dann verließ der Vater die Familie auch noch für eine andere.«
    »Und die Mutter?«
    »Erhängte sich im Trockenkeller des Mietshauses an der Abwasserleitung. Trotzek fand sie. Er hatte bis dahin alles ertragen, aber das war zu viel. Er suchte seinen Vater, fand und erschlug ihn.«
    Sie schwiegen. Edgar nahm den Werkzeugkasten, Sebastian die Leiter. Schulter an Schulter machten sie sich auf den Rückweg zum Haus.
    »Was hättest du getan?«, fragte Edgar dabei.
    »An Trotzeks Stelle?«
    »Bei uns ist es doch ähnlich. Der Hof hält uns am Leben. Was hättest du getan, wenn ich alles versoffen und deine Mutter in den Tod getrieben hätte?«
    »Nun … auf jeden Fall hätte ich dich nicht mit dem Hammer erschlagen. Es gibt andere Wege.«
    »Welche?«
    »Rechtliche natürlich.«

    »Können die den verlorenen Stolz wiederherstellen? Oder den Durst nach Rache befriedigen?«
    »Wahrscheinlich nicht, aber es ist immer noch besser, als zum Mörder zu werden.«
    »Trotzdem verteidigst du diesen Mann.«
    »Ich bin Anwalt … und ich mache mir nichts vor. Trotzek wird so oder so verurteilt. Ob ich meine Arbeit gut oder schlecht mache, wird am Ende nur ein paar Jahre ausmachen. Er aber wird zeit seines Lebens ein Mörder bleiben … ein Vatermörder. Nein, ich würde nicht so handeln. Es gibt keinen Grund, der so ein Verhalten rechtfertigt. Und Selbstjustiz gehört in eine andere, archaische Zeit, die die Menschheit zum Glück hinter sich gelassen hat.«
    Edgar blieb stehen, wechselte den Werkzeugkoffer von einer Hand in die andere.
    »Das ist nicht dein Ernst, oder?«, fragte er und sah seinen Sohn an. »Glaubst du wirklich, unsere Gesellschaft funktioniert nach den rechtsstaatlichen Prinzipien? Sieh dich doch um! Lug, Betrug und Mord, wohin man nur schaut, sogar vor unserer eigenen Haustür. Wir sind doch stets nur einen Hauch davon entfernt, uns gegenseitig an die Kehle zu gehen. Die Menschen lernen nichts dazu. Sie arrangieren sich vielleicht eine Zeit lang mit bestimmten Gegebenheiten, bestimmten Zwängen, aber wehe, die Leine wird locker gelassen! Daran können Gesetze überhaupt nichts ändern, haben sie bis heute nicht und werden sie auch in Zukunft nicht. Ich finde deinen Idealismus bewundernswert, in deinem Alter war ich genauso, aber eines Tages wirst du ihn verlieren, glaube mir.«
    Sebastian wollte etwas erwidern, wollte seinen Beruf und seine Einstellung verteidigen, auch wenn er wusste, dass Edgar nicht umzustimmen war, aber plötzlich schob
sich wieder das Bild seines erstochenen Hundes vor sein geistiges Auge, und zumindest in dieser Sache musste er Edgar recht geben. Mord gab es sogar vor ihrer Haustür, hier oben auf dem Hügel, fernab der Gesellschaft. Während er noch nach Argumenten suchte, erreichten sie den Hof und sahen das Haus vor sich liegen. Das Licht der untergehenden Sonne wärmte die Pfannen auf dem Dach und die roten Klinker, ließ sie von innen heraus glühen, zudem hatte Anna wie jeden Abend die orangefarbenen Kugellämpchen in den Fenstern eingeschaltet, sodass ihr Haus in rotem Licht zu schwimmen schien – eine steinerne Trutzburg inmitten einer verlorenen Welt. Ein Zuhause, aber trotzdem kein sicherer Ort , schoss es Sebastian durch den Kopf.
    Später, nach einem Abendessen in bedrückend schweigsamer Atmosphäre, zog er sich in sein Schlafzimmer zurück, legte sich aufs Bett und rief Saskia an. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag. Am Vormittag hatte er sie vom Büro aus angerufen, weil er einfach mit jemandem sprechen musste, seine Kollegen aber nicht mit dem Tod seines Hundes behelligen wollte. Allein mit seinem aufgewühlten Inneren in der professionellen Atmosphäre seines Büros hatte er sich gewünscht, einfach abhauen zu können, zu Saskia zu fahren. Leider fand aber gerade freitags immer die Konferenz zum Wochenabschluss statt. Der Alte hätte ihn sicher wieder zu sich zitiert, wenn er gefehlt hätte.
    »Wie geht es deinen Eltern?«, fragte Saskia.
    Sie hatte ihm gerade gestanden, dass sie nach einem anstrengenden Tag ebenfalls auf dem Bett lag und im Moment seines Anrufs nach dem Telefon gegriffen hatte, um seine Nummer zu wählen.
    »Sie sind ziemlich angespannt, fragen sich ständig, wer
das getan hat und warum. Ihr ganzes Denken dreht sich nur noch darum. Vor allem meine Mutter ist wie gelähmt vor Angst. Besonders

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