Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
fünzehn Minuten, bevor er die Kraft und den Mut fand, den Stall zu verlassen und aus dem hinteren Teil des Gartens in den Wald zu flüchten.
Sebastian stand auf der obersten Sprosse der Leiter, die an der vom Haus abgewandten Seite an die Wand des Stallgebäudes gelehnt war. Edgar suchte mit gebeugtem Rücken in einer blauen Werkzeugkiste, kam dann hoch und sagte: »Hier ist sie!« Er stieg zwei Stufen die Leiter hinauf und reichte seinem Sohn die Zange.
Sebastian nahm die Zange entgegen. Aus einem kleinen Bohrloch in der Stallwand ragte ein Kabelende. Von jedem der drei verschiedenfarbigen Kabel entfernte Sebastian am Ende die Isolierung, sodass der blanke Draht herausschaute.
»Okay, gib mir die Lampe«, sagte er zu seinem Vater.
Edgar reichte ihm den 100-Watt-Halogenstrahler, der ausreichen würde, die Rückseite des Stalls in gleißendes Licht zu tauchen. Auf dem Rückweg aus der Stadt hatte Sebastian aus einem Baumarkt vier dieser Scheinwerfer mitgebracht. Sie waren mit Bewegungssensoren ausgestattet und würden nachts automatisch aufleuchten, sollte sich jemand dem Hof von den Koppeln her nähern. Sebastian schloss den letzten Scheinwerfer an und schraubte ihn an die Stallwand. Die anderen drei befanden sich am Anbau, am Schuppen und am Hundezwinger. Damit war die gesamte rückwärtige Seite des Hofes abgedeckt. Mit dem schon vorhandenen Scheinwerfer auf dem Hof selbst würde die Lichtmenge reichen, den Schneiderhof bis weit ins Tal sichtbar zu machen, sollten die Lampen nachts ausgelöst werden. Und es sollte ausreichen, jeden Eindringling zu verschrecken.
Nachdem er die Lampe fertig montiert hatte, stieg Sebastian von der Leiter und warf das Werkzeug in die Kiste. Wie man Stromleitungen verlegte und Steckdosen und Lampen korrekt anschloss, hatte er von Edgar gelernt, aber sein Vater stieg nicht auf die obersten Sprossen einer Leiter, wenn es nicht sein musste. Sebastian war als Kind oft mit ihm auf dem Adlerrücken gewesen – dort, auf festem Grund und Boden, hatte Edgar keine Höhenangst, auf Leitern aber schon.
»Durch Taifuns Tod hat sich etwas verändert … ich habe das Gefühl, die Friedfertigkeit dieses Ortes ist zerstört«, sagte Edgar und blickte den Hang hinunter ins Tal.
Sebastian sah seinen Vater von der Seite an; das weiße Haar, der leichte Stoppelbart, der längst nicht mehr dunkel war, die tiefen Falten um Mund und Augen … Er war alt,
sicher, schien aber zusätzlich an diesem entsetzlichen Tag um Jahre gealtert zu sein. Taifuns grausamer Tod machte sie alle fertig, bei Edgar schien aber noch etwas anderes hinzuzukommen. Etwas zerfraß ihn von innen her, das konnte Sebastian erkennen, doch Edgar wollte oder konnte nicht darüber sprechen. Oder war einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen?
»Ja, das habe ich auch schon gedacht. Es scheint, als gäbe es auf dieser Welt keinen wirklich sicheren und friedlichen Ort mehr.«
»Bislang war dies einer«, sagte Edgar. »Darum leben wir ja hier.«
»Habt ihr nie etwas vermisst hier oben?«, fragte Sebastian.
»Nein!«, sagte Edgar ohne Zögern. »Deine Mutter und ich … wir haben nie viele Menschen um uns herum gebraucht. Und wenn, dann sind wir eben ins Dorf hinuntergefahren.«
»Und wieder hinauf, wenn es euch zu viel wurde.«
»Genau. Das bedeutete schon immer Freiheit für mich. Die Gesellschaft auszuschließen, wenn ich sie nicht brauche.«
»Ich weiß nicht, ob das die richtige Art zu leben ist.«
Edgar sah ihn an. Da lag Verbitterung in seinem Blick. »Und was ist nach deiner Meinung die richtige Art? Sich so nah auf der Pelle hocken, dass man seinen eigenen Vater mit dem Hammer erschlägt?«
»Bei Trotzek hatte das nichts mit Nähe zu tun.«
»Womit dann? Mit Liebe?«
Sebastian zögerte. In der letzten Frage seines Vaters schwang purer Zynismus mit, vielleicht war es unklug, jetzt ein Gespräch über Trotzek und dessen Beweggründe
zuzulassen. Auf der anderen Seite sollte Edgar aber ruhig wissen, wie es zu dieser monströsen Tat gekommen war und dass tatsächlich Liebe ein Faktor gewesen war.
»Ja, vielleicht hat es wirklich etwas mit Liebe zu tun«, sagte Sebastian schließlich. »Trotzek macht seinen Vater für den Tod seiner Mutter verantwortlich.«
»Und, hat er sie getötet?«
»Indirekt, ja. Sie besaßen einen Hof, eine einträgliche Landwirtschaft, die die ganze Familie über Generationen hinweg ernährt hat. Irgendwann fing der Vater zu spielen und zu trinken an und hat es innerhalb von drei
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