Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Die Rückfront des Hauses war kaum zehn Meter entfernt. Auch hier waren die Fenster mittels der Rollläden verbarrikadiert. Hier stimmte
etwas nicht! Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht! Außerdem lag ein merkwürdiger Geruch in der Luft.
Karl trat vor und löste den Riegel an der Schuppentür. Als er sie aufzog und das hässliche Knarzen ihm eine Gänsehaut auf den Rücken trieb, steigerte der Geruch sich plötzlich zu einem entsetzlichen Gestank. Karl stöhnte auf, drehte den Kopf weg und hielt sich eine Hand vor Mund und Nase. Er musste gar nicht weitergehen, er wusste auch so, was das für ein Geruch war. Verwesung! Trotzdem trat er einen Schritt in den Schuppen. Er musste sich bücken, die Holzdecke war niedrig. Durch eine alte milchige Scheibe fiel Zwielicht. Es reichte nicht aus, um die Schatten aus dem Stall zu vertreiben. Vor ihm befand sich eine Fläche von nicht mehr als vier mal vier Meter, dick mit Stroh ausgelegt, eine Tränke zu seiner Rechten, mehrere Gartengeräte an der Wand darüber. Der Gestank wurde unerträglich. Außerdem nahm er jetzt ein anhaltendes, aggressives Summen wahr. Einen Schritt weiter offenbarte sich ihm der Grund dafür.
Dort lag Mechthild Kreilings Ziege! Oder das, was von ihr übrig geblieben war. Ein Kadaver, von dicken schwarzen Fliegen befallen, die wie ein lebendiger Teppich wogten und waberten. Karl wurde übel; heiß und schnell stieg etwas in seinem Hals empor. Die Hand vor den Mund geschlagen, würgend und keuchend, wandte er sich ab, taumelte zur Stalltür, wollte raus, nur raus hier. Im letzten Moment bemerkte er aber die Bewegung am hinteren Ende des Grundstücks, dort, wo es in den Wald überging. Hastig zog er sich in den Schatten des Schuppens zurück und drückte die Tür zu. Dann wandte er sich der Ziege zu und erbrach sich ins Stroh. Die Fliegen brauchten nur Sekunden, um sich ihrem neuen Opfer zuzuwenden. Eklige,
dicke, blau schimmernde Ungeheuer, die plötzlich überall waren.
Karl Wohlan konnte sich nicht darum kümmern. Panik hatte sich in seinen Nacken gekrallt. Das dahinten im Garten war nicht nur eine Bewegung gewesen, nein, er hatte die massige Gestalt genau erkannt. Wohin, wohin nur? Wenn sie ihn hier entdeckte, großer Gott, was sollte er nur tun? In wenigen Sekunden würde sie den Schuppen erreicht haben. Karl saß in der Falle und fühlte sich auch so. In seinem ganzen Leben hatte er noch niemals solche Angst gehabt. Sein Blick fiel auf die Gartengeräte an der Wand. Eine Forke befand sich darunter. Karl huschte hinüber, nahm sie aus dem Haken und kauerte sich damit neben das milchige Fenster, sodass er noch hinausspähen konnte. Sein Atem raste, seine Hände umklammerten fest den Stiel der Forke.
Er hörte die schlurfenden Schritte auf den Betonplatten. Dann noch etwas anderes. Ein Lied! Sie pfiff, ja, tatsächlich, die fette Kuh pfiff fröhlich vor sich hin. Jedes Kind im Lande kannte die Melodie. Hänschen klein . Sie pfiff laut und melodisch, und jeder einzelne Ton brannte sich für immer und ewig in Karl Wohlans Gehörgang. Dann erschien die massige Gestalt vor dem Fenster des Schuppens. Durch das schmutzige, milchige Glas konnte Karl nur ihre Umrisse erkennen; den ausufernden Körper, den großen Kopf direkt auf den Schultern.
Mitten in der Bewegung verharrte sie. Auch die Melodie verstummte. Schlagartig wurde es wieder still, und das Summen der Fliegen kehrte zurück. Die Gestalt vor dem Fenster wandte sich dem Schuppen zu, kam etwas näher, schien durch das Fenster zu schauen. Karl zog sich in den Schatten der Ecke zurück. Unkontrolliert entleerte sich
seine Blase, warm lief es ihm am Bein hinab. Die Forke vor seinen Körper haltend, stand er zitternd in der Ecke, konnte ein Wimmern gerade noch unterdrücken.
Er hörte sie schnüffeln.
Sie stand vor dem Fenster und schnüffelte. Was hatte ihre Aufmerksamkeit erregt? Der Geruch seiner Kotze oder der viel stärkere Gestank des Kadavers, den er beim Öffnen der Tür hinausgelassen hatte? Und was, wenn sie hereinkam? Sollte er die Zinken der Forke in ihren fetten Körper stechen? Karl wusste genau, dass er das nicht über sich bringen würde.
Plötzlich hörte das Schnüffeln auf.
Dann setzte das Pfeifen wieder ein, und die schlurfenden Schritte entfernten sich vom Schuppen. Mit ihnen wurde auch die Melodie von Hänschen klein leiser und verklang bald völlig. Die Fliegen summten unbeeindruckt, und Karl Wohlan ertrug es, ertrug den Gestank des Kadavers und seinen eigenen weitere
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