Hänschen klein - Winkelmann, A: Hänschen klein
Hemd nass am Rücken klebte. Dann ging er ins Haus, um eine Kleinigkeit zu essen, doch schon der erste Bissen blieb ihm trotz des Hungers im Halse stecken. Er schob das Brot beiseite, trank Wasser und spürte, wie schwere, bleierne Müdigkeit seinen Kopf auszufüllen begann. Die schlaflose Nacht verlangte ihren Tribut. Er schaffte es gerade noch auf die Couch im Wohnzimmer. Sekunden, bevor er einschlief, klingelte sein Handy.
Es war Saskia. Er beruhigte sie, sagte ihr, dass es ihm einigermaßen gut ginge, erzählte ihr von Derwitz’ Besuch, und verabredete mit ihr, sie gegen halb fünf von zu Hause abzuholen, um mit ihr gemeinsam ins Dezernat und danach ins Krankenhaus zu fahren.
Kaum war das Gespräch beendet, fiel Sebastian in tiefen Schlaf.
Sie trug einen langen, grauen Trenchcoat und ein ebenfalls graues Kopftuch. Die schwarze Damenhandtasche baumelte ungewöhnlich schwer an ihrer Seite. Sie stützte sich auf einen Gehstock, den sie nicht brauchte. Zuvor hatte er Mechthild Kreiling gehört. Niemand schenkte der massigen Frau Beachtung. Es war Montag, und an einem Montag
waren die Menschen noch weniger aufmerksam als an den anderen Wochentagen, zu sehr mit sich selbst und ihrem Leid beschäftigt. Die Temperatur war zu hoch für einen langen Mantel und ein Kopftuch, aber wenn sie sich umsah, entdeckte sie überall ältere Frauen, die zu warm angezogen waren. Niemand nahm sie wahr, also würde sich auch niemand an sie erinnern. Letztendlich spielte es auch überhaupt keine Rolle, denn nach diesem Tag würde sie mit ihrem Sohn vereint sein, und die ganze Welt stand ihnen offen. Was für eine Freude!
Sie überprüfte noch einmal die Adresse auf der Karte. Vom Bahnhof dorthin war es ein gutes Stück Weg, doch sie genoss den Fußmarsch. Die Sonne streichelte ihr Gesicht, malte mit unsichtbarem Pinsel wunderschöne Gemälde in ihre Gedanken. Gemälde voller Poesie, in denen Mutter und Sohn durch sonnendurchflutete Landschaften wandelten. Ihre einsame Zeit würde bald vorbei sein, das Warten ein Ende haben. Geduld, so hatte sie einmal gelesen, ist die Brücke zum Glück. Nun war sie fast über diese lange, lange Brücke gewandert, und das jenseitige Ufer geriet in greifbare Nähe.
Und doch; je näher sie der angegebenen Adresse kam, desto mehr schmerzten ihre Beine und die rechte Hüfte. Ihr Gewicht machte ihr auf langen Wegen immer zu schaffen. Ein kleiner Preis für das, was sie bekommen würde. Sie bog um die letzte Ecke und schritt eine ruhige Wohnstraße hinunter. Das graue Pflaster war ein wenig uneben, sie musste aufpassen. Immer wieder blieb sie stehen und überprüfte die Hausnummern. Da, die alte Villa. Endlich! In Sichtweite des Hauses lehnte sie sich in den Schatten einer ausladenden Esche an eine backsteinerne Mauer und beobachtete.
Das Haus war eine große Stadtvilla mit gepflegtem Garten, umgeben von einem gemauerten Zaun mit Metallgittern. Dahinter standen Rhododendren in voller Blüte, hohe Laubbäume spendeten Schatten für vermoosten Rasen. Ein stiller, verzauberter Ort wie aus einem anderen Jahrhundert. Niemand war zu sehen. In der Zeit, die sie an die Mauer gelehnt verbrachte, liefen weder Passanten vorbei noch fuhr ein Auto.
Sie überquerte die Straße und betrat den Garten. Als sie die Pforte hinter sich geschlossen und sich dem Haus zugewandt hatte, bemerkte sie eine Bewegung hinter einem der Fenster im Untergeschoss. Bevor sie den nächsten Schritt tat, taumelte sie deutlich, fasste mit der Hand nach einem der Torpfeiler und stützte sich daran ab. Nach zwei tiefen, schweren Atemzügen ging sie weiter.
Es gab drei Briefschlitze und drei Klingelknöpfe. Der Name von der Karte, den sie sich unauslöschlich eingeprägt hatte, stand unter dem obersten Knopf. Sie klingelte. Niemand öffnete. Sie klingelte noch einmal, aber länger, wartete. Schlurfende Schritte im Flur. Durch das bunte Glas der Eingangstür konnte sie Bewegungen erkennen.
Eine alte Frau öffnete. Ihr schlohweißes Haar stand wirr um ihren Kopf, auf der Nase rutschte eine Brille nach unten. »Frau Eschenbach ist nicht daheim«, sagte die alte Frau in abweisendem Tonfall.
Für einen Augenblick fehlten ihr die Worte. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass jemand anderes ihr die Tür öffnen würde. Aber vielleicht war dieser Umstand eine Fügung des Schicksals! Mit alten Menschen konnte sie umgehen, und wenn sie erst einmal im Haus war, hatte sie gewonnen. Dann würde sie drinnen in aller Ruhe
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