Haeppchenweise
zieht sich horizontal über ihre Stirn. Ich strecke ihr die Zunge heraus und greife nach der Pinzette auf der Ablage.
Im Hausflur des Buchladens schlägt mir neben dem üblichen Gemisch aus Bohnerwachs und Holzreiniger eine Alkoholfahne entgegen, die schon beim Einatmen betrunken macht. Julius liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Linoleum, seine Hand umklammert eine leere Whiskyflasche. Ich hätte mich zu Tode erschrocken, würde er nicht schnarchen wie ein Trupp Waldarbeiter. So halte ich nur die Luft an und beuge die Knie.
„Julius?“
Keine Reaktion. Ich tippe vorsichtig auf seinen Schenkel. Er brummt, dreht den Kopf beiseite und schnarcht lauter.
„Juu-li-us!“
„Nein! Nicht den Thymian, du Depp!“
Er fährt in die Höhe und starrt mich aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Pupillen driften nach oben, bis nur noch das Weiß zu sehen ist. Dann kippt er zur Seite und erbricht ein grüngelbes Etwas auf die Steinfliesen.
Okay. Julius hat sich offenbar eine Alkoholvergiftung zugezogen. Mühsam unterdrücke ich den Brechreiz, den der gallige Geruch seines Mageninhalts auslöst.
„Katta? Im Stüssgen han se Jewürzgurken em Angebot, isch ... Donnerknespel!“
Helga steht wie vom Blitz getroffen auf der obersten Stufe, den Schlüsselbund in der erhobenen Hand, als habe sie bei unserem Anblick vergessen, wozu sie ihn benötigt. Ihre Einkaufstüten gleiten zu Boden und ein unheilvolles Klirren verkündet, dass ihr Sonderangebot den Fall nicht unbeschadet überstanden hat.
Das Essiggurkenaroma gibt mir den Rest. Während der Maestro mit offenem Mund vor sich hinsägt, nimmt mein spärliches Frühstück den Weg rückwärts. Mit zwei Schritten kniet Helga bei mir, tätschelt meinen Rücken und zaubert, keine Ahnung woher, ein Taschentuch hervor.
„Kindchen, ins Bad un Kopp ungers Wasser!“
„Aber Julius, er ...“
„De Julia un isch kümmern uns öm diese förchterliche Minsche.“
Trotz allem Verständnis für seine Beweggründe, sich ins Koma zu saufen, erleichtert es mich ungemein, dass ich den sternhagelvollen Julius nicht die drei Etagen in die Mansarde hochschleppen muss.
„Sollten wir nicht lieber einen Arzt rufen?“
Helga schüttelt energisch ihre Dauerwelle. „Dä braucht Schlaf un kalted Wasser, damet kenne isch mich aus. Ming Dietmar wor jedä Samsdaach blau wie ene janze Fussballölf“, knurrt sie und schließt resolut die Tür hinter mir.
Einen winzigen Augenblick bedauere ich Julius. Helga besitzt nicht nur die Reizbarkeit einer trächtigen Löwin, sondern manchmal auch den Umgangston eines Stasioffiziers. Aber sie mag ihn. Irgendwie zumindest.
Mein Büro erwartet mich so aufgeräumt, wie ich es verlassen habe. Nur der amtliche Wisch – ausgestellt von Gerichtsvollzieher Riemschneid und wirkungsvoll auf der Tischmitte platziert – bezeugt mit Amtsstempel, dass die blanke Arbeitsfläche nicht das Geringste über meine geschäftliche Realität aussagt.
Ich benötige zwanzig Minuten, um dem Container des Vergessens meine drei Mülltüten zu entreißen. Irgendein Schwachmat hat seinen Hausmüll in meine Säcke gestopft. Entgeistert betrachte ich die glutäugige Strandschönheit mit Körbchengröße Doppel-D, die sich ohne Körbchen auf einer Illustrierten räkelt. Zwischen der Mahnung meines Toilettenartikellieferanten und dem Vollstreckungstitel der Brauerei klebt ein Kaugummi. Ich fische spitzfingerig das braun gesprenkelte Einschreiben des Finanzamts heraus. Die Einspruchsfrist ist vor drei Wochen abgelaufen. Kurzentschlossen greife ich zum Telefon, ehe ich Selbstmordgedanken hege.
„Kanzlei Dr. Hennemann und Partner, Müller am Apparat?“
„Elfi? Ich brauche Johannes. Dringend!“
„Der sitzt bei Gericht.“
Na logisch. Als ob das Schicksal meine guten Vorsätze sofort belohnte. Pustekuchen. „Ist er nachmittags im Haus?“
„Freitags?!“ Sie lacht belustigt.
Ich habe immer noch nicht begriffen, dass mein Exchef von Aliens entführt wurde. Sein Klon nimmt berufliche Dinge nicht allzu wichtig. Nach einem gehauchten „Danke, ich melde mich später“, lege ich auf, bevor meine ehemalige Kollegin sich nach meinem Befinden erkundigt. Elfi Müller ist wahrhaftig der letzte Mensch auf Erden, von dem ich mir einen klugen Ratschlag erhoffe.
Eine Stunde darauf habe ich meine ohnehin kümmerlichen Fingernägel bis auf die Haut heruntergeknabbert. Nach rund zwanzig geöffneten Mahnbriefen belaufen sich meine Außenstände bereits auf schlappe 2.539 Euro und
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