Härtling, Peter
doch allem voran den wehrlosen Ältesten in seinem Recht zu bewahren. Ihm sollte auch nach ihrem Tode nichts abgehen. »Solte es wie zu vermuthen ist, mein 1. Sohn mich über leben« – dennoch erhofft sie das Gegenteil. Und sie hält aus. Diese gichtige, hinfällige Wächterin ist stark, trotzt sich Monat für Monat, Woche für Woche ab. In ihrem achtzigsten Jahr muß sie aufgeben; am 17. Februar 1828 stirbt sie. Sie ist die Johanna meiner Erzählung geworden. Es fragt sich, ob sie so gewesen ist: Hier war sie das, was sie wohl auch sein wollte, eine übermächtige Mutter und eine verschwiegene Liebende.
Zimmer hatte seinen Pflegling immer wieder anhalten müssen, der Mutter zu schreiben. Manchmal folgte Hölderlin, wie ein unwilliger Schüler, und dann erhielt Johanna eine jener kurzen Mitteilungen eines Geistes, der sich über seine Verwirrung rätselhaft im klaren ist: »Verzeihen Sie, liebste Mutter! wenn ich mich Ihnen nicht für Sie sollte ganz verständlich machen können. – Ich wiederhole Ihnen mit Höflichkeit was ich zu sagen die Ehre haben konnte. Ich bitte den guten Gott, daß er, wie ich als Gelehrter spreche, Ihnen helfe in allem und mir. – Nehmen Sie sich meiner an. Die Zeit ist buchstabengetreu und allbarmherzig. – Indessen Ihr gehorsamster Sohn Friederich Hölderlin.«
Karl und Heinrike zögerten nicht, vom Argwohn der Mutter befreit, das Testament unverzüglich anzufechten. Sie stritten, obwohl Karl inzwischen als Domänenrat ein gutes Einkommen hatte und Heinrike durch das Erbe gesichert war, um jeden Gulden, versuchten die Zuwendungen an Zimmer einzuschränken, mißgönnten dem kranken Bruder unnötige Genüsse wie Wein und Tabak. Dabei konnten sie zufrieden sein, waren unversehens wohlhabend geworden. Die Hinterlassenschaft belief sich auf neunzehntausend Gulden. (Das sind in heutigem Geld ungefähr dreihunderttausend Mark). Davon wurden neuntausendvierundsiebzig Gulden Hölderlin zugesprochen, die man allerdings nicht anzutasten brauchte, da das jährliche Gratial weitergezahlt wurde und Karl außerdem die steigenden Einkünfte aus den Werken verwenden konnte. Beim Tod Hölderlins war sein Anteil durch Zinsen auf zwölftausendneunhundertneunundfünfzig Gulden angewachsen. Er war den Geschwistern nichts schuldig geblieben.
Zum amtlichen Interessenvertreter Hölderlins wird der Nürtinger Oberamtspfleger Burk bestimmt. Er handelt gewissenhaft, weist die Ansinnen der Geschwister zurück,verbündet sich mit Zimmer, der, als Heinrike ihn auffordert, an Burk die Vierteljahresabrechnung zu senden, unverhohlen seinen Abscheu über das Verhalten der Geschwister ausspricht: »Ich weiß nicht, ob Sie den lieben Unglüklichen Hölderlin können, und Antheil an Ihm nehmen. Er verdient es gewiß in jeder Rüksicht. Die neusten Tag Blätter nennen Ihn den ersten Elegischen Dichter Deutschlands, schade vor seinen herlichen, und großen Geist, der jezt in Feßlen liegt … Da Seine Edle nun Volendete Mutter, schon lange vor ihrem Hingang, für seine Bedürfniße hinlänglich gesorgt, wie sie es mir auch mehrere mahl geschrieben hat, so ist es, Traurig das mann ihm nicht einmahl daß was Seine Mutter für Ihn angeordnet hat, zuerkennen will, und auch da ihn noch daß Schiksal verfolgt. Was wird Sein künftiger Biograph sagen, der wie ich hofe nicht ausbleiben wird, über diese Geschichte.«
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IV
Fast noch eine Geschichte
Ich fange beinahe von vorn an, im Stift, auf einem der düsteren Gänge, vor einer der Stuben. Es herrscht der übliche Betrieb. Ein paar Studenten stehen in einer Gruppe, unterhalten sich, unter ihnen der zwanzigjährige Gottlob Kemmler aus Reutlingen. Sie werden unterbrochen von einem atemlos hinzugekommenen Kameraden, der ihnen mitteilt, daß Hölderlin gestorben sei. Einige von ihnen, auch Kemmler, haben Hölderlin manchmal besucht, ihn oft vor dem Zimmerschen Haus gesehen. Für sie war er mehr, sie kannten, in Bruchstücken, seine Geschichte,wußten manches seiner Gedichte auswendig. Und er war ein Stiftler gewesen.
Sie werden still, das Gelächter bricht ab, sie ziehen sich zurück auf ihre Stuben. Am Nachmittag geht Kemmler zum Zimmerschen Haus, bittet die alte Frau Zimmer, den Toten betrachten zu dürfen. Hölderlin liegt aufgebahrt, die Hände überm weißen Leinen gefaltet, einen Lorbeerkranz um die Stirn. Dies sei ein Einfall von Lotte und den Studenten im Hause gewesen.
Er ist gestern nacht um elf gestorben, sagt Frau Zimmer.
Am 7. Juni 1843.
Es isch schnell
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