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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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erregt als sonst, redete unverständlich mit sich selbst, Zimmer fragte ihn leise, um die Aufmerksamkeit des Tobenden zu gewinnen, was ihm denn fehle und zu seiner Überraschung antwortete der ebenso leise: Gehen Sie nur wieder zu Bett. Ich kann halt nicht schlafen, muß herumlaufen. Das ist so. Gehen Sie nur wieder, mein lieber Herr. Ich tu niemandem was, Sie können alle wirklich ganz ruhig schlafen. Ich werde nicht bös, nein.
    Doch vom nächsten Morgen an waren sie unaufhörlich beschäftigt, ängstigten sich, beteten, wuschen ihn, legten ihm Wickel, hoben den leichten Körper, um die von Kot verdreckten Laken aus dem Bett zu ziehen, kämpften gegen Übelkeit, ertrugen kaum den Gestank, redeten auf ihn ein, es ist schon besser, lieber Hölderle, es wird besser, es ist schon gut, beruhigten die zeternden Kinder, wechselten sich in der Wache ab, stemmten sich gegen die Müdigkeit, redeten auf ihn ein, Zimmer rannte zum Arzt, während seine Frau bei dem Kranken blieb, ihm aus dem »Hyperion« vorlas, und sie fürchteten noch immer, er könnte in ihrem Hause sterben, bis sich alles unvermutet besserte, sie einen anderen Hölderlin hatten, still, aber auch dumpf, mit einem Mal viel älter.
    Im Jahr darauf wird Lotte geboren. Sie zeigen ihm den Säugling. Er schnalzt mit der Zunge und spricht von den arglosen Kindern, den lieben Geschöpfen der Natur.
    Inzwischen gedeiht draußen der Plan, seine Gedichte zu veröffentlichen. Sie erscheinen 1826.
    Er läßt nun, ohne aufzubegehren, viel mit sich geschehen. Wenn er betrübt scheint, sich niemandem zuwenden will, sitzt er Tag für Tag am Klavier. Die Studenten im Haus holen ihn manchmal auf ihre Zimmer, er spielt ihnen auf der Flöte vor. Ich kann auch Walzer, sagt er, tanzt mit ihnen, die Augen geschlossen, entzückt über sein Können.
    Waiblinger nimmt ihn mit in sein Gartenhaus auf den Österberg; da ist der Kranke plötzlich umgänglich, kann ein wenig erzählen und läßt sich ausfragen. Waiblinger fragt viel, wie auch der junge Schwab.
    Manchmal besuchen ihn Gestalten seiner Vergangenheit, und er muß sich wehren, er gibt vor, sie nicht zu erkennen. Zimmer kündigt sie an: Demoiselle Lotte Stäudlin möchte Sie besuchen. Hölderlin hält sich, wie immer, am Schränkchen, rührt sich nicht, lächelt. Lotte sieht ihn, wie viele andere ihn sehen, nach vorn gebeugt und mit einem von den Anfällen und vom Alter vergröberten Gesicht. Sie redet mit ihm. Stäudlin? Ich bin die Lotte. Weißt du, die Schwestern – wir drei?
    Er reagiert nicht.
    Wiederum führt Zimmer einen Gast in die Stube, ruft Hölderlin, der eben Klavier spielt, zu: Ein Herr Immanuel Nast. Der Kranke schlägt auf die Tasten ein, senkt seine Stirn gegen sie, zieht Grimassen. Es ist allzu lange her und den hat er nicht nur vergessen, er hat ihn fallenlassen. Nast schluchzt, fällt Hölderlin um den Hals, fragt: Lieber Hölderlin, kennst du mich denn nicht mehr? Kennst du mich denn nicht mehr? Der Kranke spielt weiter, nimmt keine Notiz von seinem Besuch.
    »Wenn aus sich lebt der Mensch und wenn sein Rest sich zeiget, / So ists, als wenn ein Tag sich Tagen unterscheidet, / Daß ausgezeichnet sich der Mensch zum Reste neiget, / Von der Natur getrennt und uribeneidet.« Im November 1838 stirbt der achtundsechzig; jährige Zimmer. Ist dem Kranken der Verlust klargeworden? Oder ist er, wie beim Tod der Mutter, scheinbar unerschüttert geblieben? Hat er verstanden, was Zimmer für ihn gewesen war: Nicht nur ein Pfleger, Hauswirt und Freund, sondern jener, der ihm auf seine verzweifelte Frage nach dem besseren Menschen mit seiner Liebe und Ausdauer verspätet eine ganz einfache Antwort gab.
    Die Familie verschont ihn mit der Trauer. Weint nicht vor dem Hölderle! Das könnte ihn aufregen. Und er nahm es als selbstverständlich hin, daß ihn von nun ab Lotte morgens weckte, für ihn sorgte. Sie führt jetzt den Briefwechsel mit den Verwandten, wie sie es beim Vater gesehen und gelernt hat. »Heilige Jungfer Lotte« ruft er sie.
    Nichts ändert sich. Vieles ändert sich. Christian, der älteste Sohn Zimmers, ist aus dem Haus. Christiane heiratet drei Jahre nach dem Tod des Vaters den mit ihr entfernt verwandten Pfarrer August Zimmer und erklärt sich bereit, Hölderlin in ihren neuen Haushalt mitzunehmen. Das läßt Lotte, die inzwischen fünfundzwanzig Jahre alt ist, nicht zu. Sie will ihn, zusammen mit der Mutter (die 1849 stirbt) weiter hüten, wie es der Vater getan hat.
    In diesen Jahren schreibt Hölderlin

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