Härtling, Peter
schändlichen Lasters des Zu- und Volltrinkens enthalten und anderer ähnlicher Üppigkeiten außerhalb des Klosters.
Sie sollen sich keusch und züchtig halten, vor allem das Lesen schädlicher Bücher und Romane unterlassen. Wenn einer hierüber erwischt werde, solle er von demPrälaten mit Karzer gestraft und mit Wasser und Brot gespeist werden. (Also waren, wie immer, die Bücher das Gift, die fremden und neuen Gedanken; saufen konnte man noch ohne Kerker …)
Sie sollen untereinander friedlich und einig, gegen jedermann höflich, leutselig und bescheiden sein.
Sie sollen den Famulus bescheiden behandeln.
Sie sollen mit den nötigen Büchern gleich beim Eintritt ins Kloster versehen sein.
Sie sollen sommers um fünf, winters um sechs im gehörigen Habit geziemend erscheinen (denn manche Alumnen hätten ihre eigene Kleidung, sogar eigene Möbel und andere Üppigkeiten eingeschleppt, deshalb »wird dergleichen Übermaß und unzeitige Galanterie untersagt«. »Weltförmige Kleidung« ist innerhalb und außerhalb der Schule verboten. Sie haben die grauen, dauernd feuchten Kutten zu tragen, unförmige Säcke, deren grober Stoff auf der Haut nesselt). Sie sollen nicht umherstreunen oder ohne Erlaubnis das Kloster verlassen. Sie sind schlicht und einfach eingesperrt.
Nichts davon schrieb er nach Hause, keine Klage, nichts von der Kälte und Feuchtigkeit in den Stuben, von den Mäusen im Bettenstroh, vom morgendlichen Waschen auf dem Hof, vom Unverständnis mancher Lehrer und von der Gemeinheit und Bestechlichkeit des Priors.
Fügte er sich leichter als andere, war er williger, »bräver«, wie es auf Schwäbisch heißt? Tat er es der Mutter zuliebe oder folgte er den durch warnende Erzählungen erhärteten Vorschriften Köstlins? Das früheste erhaltene Bildnis zeigt den Sechzehnjährigen: »Der junge Hölderlin.« Es ist nicht mehr in Denkendorf, sondern im ersten Maulbronner Jahr entstanden, wahrscheinlich gemalt von einem Schulfreund. Streng im Profil. Die Locken über den Ohren, von denen er der Mutter schrieb, er trage sie nun fein gerollt, weil sie es wünsche. Es ist schwierig, alte Porträts zu schildern, sie zu beleben, auch wenn man sie gut, seit langem kennt, sie erinnert, als handele es sich um eine vertraute Person, als wüßte ich viel von ihm. So ist es nicht. Je mehr ich über ihn lese, desto mehr entgleitet er mir. Ich möchte seine Stimme hören.
Ich höre sie, wenn ich das Bild ansehe, hell, ein wenig fistelig, immer leise. Später wird sie sonorer, sicherer werden. Aber am Ende, in Tübingen, wird sie wieder flüstern.
Es wird von der »präexistenten Reinheit« dieses Gesichtes geschrieben. Es ist wahr. Sie ist gar nicht einfach zu erklären. Es scheint, als leuchte etwas unter der Haut.
Er ist noch ein Kind, doch ernst und angehalten, sich erwachsen zu benehmen. Den unbekannten Zeichner müssen die Augen gefesselt haben, von denen noch viele sprechen werden, selbst Waiblinger noch, der den faselnden Alten besucht, Augen, die merkwürdig eng liegen, unter hohen, dem Ausdruck dauernden Erstaunens nachgezogenen Brauen; Augen eines Introvertierten, eines leicht Verletzbaren; die sehr lange Nase reißt das Gesicht auseinander in die von Augen und Mund belebten Felder und ein Stück stumpfer Ausdruckslosigkeit; der Mund ist auf diesem Bildnis, unter einer kurzen Oberlippe, klein. Sonst ist es ein durchaus sinnlicher, geschmäcklerischer Mund. Aber das Kinn weicht, von einem Grübchen geteilt, zurück.
Es ist ein schönes Gesicht, fast übertrieben klar. Seine Verschlossenheit läßt es melancholisch wirken. Ein Bub,mit dem man zu reden wünscht, dessen Ansicht man ernst nehmen würde, den man, bei allem Philosophieren, gern lachen hören wollte.
Er hat sich nicht gewehrt, wie einige andere, er hat sich in die Pflichten geschickt, obwohl er vielleicht damals schon entschlossen war, nicht Pfarrer zu werden, sondern zu schreiben. Die Mutter weiß, daß er Gedichte schreibt, nicht heimlich, was in späteren Generationen üblich sein wird, denn Dichten ist ein unmännliches Geschäft, sondern von den Lehrern gefördert, angespornt durch Rivalen und Bewunderer; von »tausend Entwürfen zu Gedichten« spricht er. Sie sind, bis auf ein halbes Dutzend, nicht erhalten.
Merkt er wirklich die Kargheit nicht, den Druck, die Roheit? Oder flieht er jetzt schon in die rettende Phantasie?
Nürtingen ist nicht weit. Er hätte fliehen können. Ausgebrochen ist keiner. Diese Leben waren festgeschrieben. Wer
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