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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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näher zu mir heran.
    Es ist der 28. Juli 1975; ich schreibe über den 18. Oktober 1786. Ich sitze in meinem Arbeitszimmer, die Tür zum Garten ist offen, einige Fotografien von Maulbronn liegen neben mir, ich erinnere mich der Besuche dort. Das erstemal war ich als Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger mitder Schulklasse in Maulbronn. Ich hatte Hesses »Unterm Rad« gelesen, es gelang mir, die Erzählung sichtbar werden zu lassen, und meine Phantasie ging so weit, daß ich hoffte, auch mein Lehrer und die Mitschüler könnten sehen, was ich sah: den zarten, von der Lernwut ausgemergelten Hans Giebenrath, allein, ein Buch in der Hand, im Kreuzgang, und dann, auf einem stillstehenden Bild, in der Brunnenkapelle. Er stellt sich zwischen Hölderlin und mich, setzt andere Geschichten in meinem Gedächtnis frei.
    Wäre es nicht sinnvoller, ein Tagebuch zu schreiben? Notizen über den täglichen Umgang mit Hölderlin? Und was aus dem Tag hinzukommt? Während ich die Gedichte an Stella und die Briefe an Louise lese, fällt mir die Unterhaltung mit einem Freund über die Ereignisse in Portugal ein, über die regierenden Generäle, erinnere ich mich, merkwürdigerweise, an die Lektüre von gestern, an ein Buch über Zelda, die extravagante Frau des amerikanischen Schriftstellers Scott Fitzgerald, diese Südstaatenschönheit, die zum Idol der frühen Zwanziger wurde, ein »Flapper«, ein seltsames Gemenge aus unterschiedlicher Mitteilung, undeutlichen Emotionen. Doch lasse ich, wenn ich über seine Tage schreibe, nicht eben dies weg, weil es mit ihm vergangen ist? Daß er sich, zum Beispiel, mit einem aus der Promotion über dessen Vater unterhält, der sich nicht mehr in der Gnade des Herzogs befindet, daß beide jungen, halb im Spaß und halb im Ernst, den Herrscher zum Teufel wünschen, jedoch verstummen, weil sie Schritte auf dem Gang hören; oder daß ihm eine Zeile Klopstocks in den Sinn kommt, daß er sich, während sie auf das Dorment und in die Stuben geführt werden, an sein Zimmer in Nürtingen erinnert undan eine seltsame Angewohnheit der Mutter: Wann immer sie über die Schwelle in seine Stube trat, schob sie, als fürchte sie auf einen Widerstand zu stoßen, die rechte Schulter vor.
    Ich versuche, in diese erloschene Wirklichkeit einzudringen.
    Die von Erbe geschundenen Knaben, geübt in der Fron und in geheuchelter Demut, hatten sich von Maulbronn Änderung erhofft, sie träumten von mehr Freiheiten, den kleinsten nur, zugeneigten Lehrern und einem aufgeschlossenen Prälaten. Hölderlins späterer Freund Magenau, der zwei Jahre zuvor eingezogen war, spricht in Erinnerungen noch von bangen »Ahndungen«, mit denen die Eltern ihre Zöglinge dorthin geleitet hätten. (Also wird ihn die Mutter, wie nach Denkendorf, auch nach Maulbronn begleitet haben. Er war schon sicherer, hat ihre Nähe eher gemieden und sich unter den Freunden aufgehalten. Die Alten sind aufgeregter als wir. Es wird ihn auch nicht geschert haben, wenn die Mutter sich gelegentlich mit dem Prälaten oder einem der Professoren unterhielt. Da war manches zu regeln. Und ihm wenig nachzusagen. In seiner Promotion stand er, wie immer, an der sechsten Stelle, und da würde er sich auch in Maulbronn halten. Es kann sein, er beruhigte die Mutter: Laß di doch net drausbringe von dene Wichtigtuer! Doch in ihrer Fürsorge, die jede Ängstlichkeit überwand, wollte sie ihm alle Wege ebnen. Du sollst es gut haben, Fritz.)
    Magenaus Prälat war ein Jahr noch die »alte Schlafmütze« Schmidlin gewesen, die »schon ziemlich alt und für junge aufbrausende Köpfe allzu liberal war«. Nächtliche Exkursionen seien gang und gäbe gewesen. »Die Bürger vonalters her gewöhnt, den Studenten überall die Hand zu bieten. Das Geld der Letztern überwand alle Hindernisse.« Und gesoffen wurde über die Maßen. Magenau schreibt das, rückblickend, ein Jahrzehnt später, nun selbst schon über Tugenden wachend, aus seinem Gedächtnis alle Herausforderungen, Lustbarkeiten und jungenhaften Neigungen vertreibend.
    Schmidlin, der Gleichgültige, starb, und ihm folgte Weinland, auf den vor allem der Herzog setzte. Offenbar wetterte er in den ersten Monaten auch gewaltig, strafte Missetäter, unterband die mit väterlichen Geldern gestifteten Kontakte zwischen Dorf und Kloster, achtete auf sparsamen Weinverbrauch, jedoch die Ausdauer der jugendlichen Unholde und die Nachlässigkeit der schon unter Schmidlin dienenden Professoren Maier und Hiller war größer.
    In Maulbronn wird

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