Härtling, Peter
werden müsse. Es wurde deshalb eine Karzerstrafe von 8 Stunden festgesetzt, welche Hermann morgens von ½1 bis ½9 Uhr verbüßen wird.«
Die Strafarten waren Hölderlin wie Hesse bekannt: vom Entzug des Weines (oder später des Kaffees), vom zeitweilig verordneten Hungern bis zu übermäßig schwierigen schriftlichen Arbeiten und Karzer. Vorm »Loch« fürchteten sich alle. Die Freundlichkeit der Hesseschen Lehrer hatte einen Grund. Sie wollten, obwohl Hesses Eltern sich von der Strenge Maulbronns viel für den unruhigen Sohn versprachen, den Jungen loswerden. »Außerdem war die übereinstimmende Ansicht des Konvents, daß das Verbleiben Hermanns im Seminar … nicht wünschenswert sei.« Ein solches Ansinnen hätte, das wußte Hölderlin, seine Mutter nie verschmerzt. Darum verschwieg er auch noch seinen Plan, nach Seminar und Stift nicht in den Pfarrdienst zu gehen. Die Sorge der Mutter bannt ihn.
Niemandem vertraute er sich an. Dennoch brauchte er einen Vertrauten, allerdings einen, den er vergessen konnte, sobald er die Verbindung geschaffen hatte. Dafür finden sich in Schwaben allemal Verwandte. Überall haben diese großen Familien ihre Stützpunkte, Tanten und Onkel, Vettern und Basen, nötigenfalls Paten. Einer der Klosterfamuli gehörte entfernt zur Familie; dessen Sohn wiederum – ich sehe ihn als ein geducktes, verdrossenes Geschöpf, immerzu ängstlich durchs Kloster huschend, unter den dauernden Drohungen des Vaters verkümmernd, dem es in Fleisch und Blut übergegangen ist, wachsam zu sein, der für den Beruf des Famulus besonders geeignet ist, ohne Murren die Professoren, Repetenten und Alumnen bei Tisch bedient, der katzbuckelnd das Klostertor öffnet, aufpaßt, daß die Schüler zur rechten Zeit zu den Stunden kommen oder sich ihren Arbeiten widmen, verbotenem Tabakrauch schnüffelnd auf der Spur ist, der sich ein Lächeln aufgesetzt hat, das den Tag über hält, der seine Fron am Gesinde ausläßt, in der Küche, in der Schreinerei, bei den Knechten und Mägdendes Kammerrats Nast und daheim, bei Frau und Kindern, die nichts zu lachen haben, die für den Famulus famulieren müssen, ihn zu bedienen haben – dieser Sohn, dessen Namen nicht überliefert ist, wird von Hölderlin überredet, Bote zu sein.
So, wie ich ihn jetzt kenne, überrascht es mich, daß er dies wagt. Immer hat er das Private ausgenommen, hatte sich an den Späßen und abenteuerlichen Geschichten der Freunde delektiert, doch – sich selbst zurückgehalten. Es muß ihn sehr in ihre Nähe gedrängt haben, daß er den ihm fremden Buben zum Zwischenträger machte.
Du bist doch oft bei den Nasts, nicht wahr?
…
Kannst du der jungen Dame etwas ausrichten?
…
Doch so, verstehst du, daß es niemandem auffällt.
…
Du hast mein Vertrauen.
…
Und der Junge kehrt zurück: I hans Fräulein g’sproche. Erscht wollt se net. Aber Se derfet komme. Heut mittag. Nach ’em Philosophiere. In unserm Garte.
Das ist erfunden. Immer spricht nur der eine. Das Schweigen des anderen macht mir die Erfindung leichter. Daß der Bub den Garten seines Vaters vorschlug, ist wahr. Vermutlich lag er günstig, nicht im Blickfeld der Professoren und Nasts.
Solche Vorbereitungen sind schön. Ihm werden Zeilen für Stella durch den Kopf gegangen sein: »Dann sah ich auf, sah bebend, ob Stellas Blick / Mir lächle – ach! ich suche dich, Nachtigall! / Und du verbirgst dich. – Wem, o Stella! / Seufzest du? Sangest du mir, du süße?«
Für ihn ist Stella einzigartig. Wenn er sich an Cidli oder Laura erinnert – sie sind Literatur, verbergen sich hinter Sätzen, Stella hingegen hat ihre reale Entsprechung. Sie liebt er. Die Gefühle und Gedanken, die er ihr in Gedichten aufredet, wollen ohnedies nicht viel mit der Wirklichkeit gemein haben, spielen mit Melancholie, suchen Einsamkeit, fürchten Trennung. Schreibt er das nur, weil die poetischen Muster es ihm eingeben? Oder sind die Ahnungen stärker als die Hoffnungen? Kennt er sich besser, als ich, der ich ihn aus großer zeitlicher Ferne beobachte, meine?
Von ihm wie von ihr ist je nur ein Brief aus der Maulbronner Zeit erhalten. Und ein einziger Satz aus einem weiteren Brief Louises, der nur deshalb bewahrt blieb, weil er ihn, schon in Tübingen, beim Wiederlesen, aufschrieb, ihre erste Botschaft, auch die bewegendste, wie alles ein Beginn ist, der nichts verleugnet, der alles gibt: »Sie haben mein ganzes Herz!« In allen andern Briefen duzen sie sich, hier steht noch das »Sie«. Also
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