Härtling, Peter
sein Bild deutlicher. Er ist nicht mehr das fast sprachlose, ehrerbietige Kind, das immer wieder in das Schattenfeld der übermächtigen Familie zurücktritt, behütet und scheinbar unangreifbar, sondern der zum erstenmal selbständig Handelnde, der mit Stolz unerfahrene Bereiche erobert, sich aber auch wieder unversehens zurückzieht.
Das läßt sich erzählen. Er schreibt an die Mutter: »Meine Haare sind in der schönsten Ordnung. Ich habe jetzt auch wieder Rollen. Und warum? Ihnen zulieb!« Die Frisur ist in der Tat ordentlich, die zu den Schläfen führenden Rollen machen das Gesicht zart. So wird er der Mutter gefallen haben, noch kindlich und so gesittet, wie sie es sich wünscht. Er möchte so bleiben. Er fügt sich dem Bild, das sie sich von ihm macht, fügt sich aus Zuneigung, wahrscheinlich auch aus Bequemlichkeit, sicher nicht aus Berechnung.
Kaum zwei Wochen ist er in Maulbronn, und alles ändert sich für ihn. Die Jungen waren darin geübt, sich eine neue Umgebung zu erobern. Auf die Lehrer mußten sie sich einstellen. Der Tageslauf glich dem in Denkendorf. Nur geschah eben alles »eine Stufe höher«, sie wurden um einen Deut mehr als Erwachsene behandelt, es gab mehr Schlupflöcher – das nützten sie aus. Die von Magenau im nachhinein beklagte Freizügigkeit war für die Betroffenen eine Labsal. Die Kontakte zum Dorf waren schnell geknüpft, eigentlich mehr aufgefrischt, denn viele der Bürger waren darauf aus, mit den Alumnen zu verkehren, den »jungen Herren«, und die Mädchen verstanden es, zu poussieren. Eine »Liebschaft« war gestattet, natürlich im Rahmen und unter den wachsamen wie begierigen Blicken der Mütter. Es könnte ja mehr werden, und Pfarrfrau zu sein – warte muescht könne – war für die vifen Landmädchen durchaus erstrebenswert.
Er ist da ohne Zweifel mit von der Partie, vielleicht schüchterner als die Freunde, doch zum gesellschaftlichen Treiben gehört es eben, daß man in Familien, mit denen die eigene Familie entfernt verwandt oder wenigstens bekannt ist, aufgenommen wird, das »junge Volk« zueinander findet, ein hübsches »Bäsle« nach abgeschautem Ritual verehrt und, nicht sonderlich übertrieben, umworben wird. Zu weit geht keiner, da man die Wachsamkeit der Erwachsenen einkalkuliert. Hin und wieder gibt es freilich Skandale, die geschickt vertuscht werden. Affären, die mit allgemeiner Feindschaft enden, Liebschaften, die tiefer reichen und monatelange Verzweiflungen mit sich bringen.
Er wird, gleich zu Beginn, seine Erfahrungen gemacht haben, denn Freunde wie Bilfinger oder Fink versäumtenkeine Gelegenheit, dem Kloster zu entkommen und in der Gemeinde ihre Artigkeiten auszuprobieren. Doch bald hatte er für die Schönheiten im Dorf kein Auge mehr. Er verliebte sich in Louise Nast, die jüngste Tochter des Klostergutverwalters Johann Conrad Nast. Es ist nicht überliefert, wie diese Geschichte begonnen hat. Aber Anfänge lassen sich erzählen.
Ich frage mich, was er gesehen hat, als er mit der Mutter ins Kloster kam. Er hatte, bei seiner labilen Verfassung, zwei Tage zuvor, in Nürtingen, unter Magenkrämpfen zu leiden und war von Großmutter Heyn mit Kamille und Brom traktiert worden. Dennoch versicherte er immer wieder: Maulbronn fürchte er keineswegs, er freue sich vielmehr. Die Reise nach Maulbronn in dem Wagen, den sie vielleicht gemeinsam mit den Bilfingers gemietet hatten, war überdies noch beschwerlich und langwierig; sie fuhren über die Filder nach Möhringen, von dort nach Leonberg und Markgröningen, wo Tante Volmar wartete und, auf einem kurzen Halt, neben heißem Most die letzten Neuigkeiten bot; über Vaihingen erreichten sie dann endlich Maulbronn. Er stieg aus, half der Mutter aus der Chaise, Bilfinger, im Geleit seines lauten, selbstsicheren Vaters, versammelt mit einem Blick die im Hof schon Anwesenden, während Hölderlin, allzu stürmische Begrüßungen fürchtend, zur Seite, in den Schatten der Bäume tritt, zusieht, wie Gruppen sich finden, die Eltern sich zueinander scharen, die Buben hingegen, oft zu zweit, sich davonstehlen, von aufmerksamen Helfern wieder zur Menge gerufen werden, hört, nebenbei, daß dieser stattliche Bau gegenüber der Klausur der Klosterhof sei, dort wohnten die Nasts, der Gutsverwalter sei ein ausgezeichneter Mann, der es zu einem Vermögen gebracht habe.
»Klosterhof« ist, denke ich mir, ein Stichwort. In solch einem Hause habe ich auch einmal gewohnt, darin bin ich geboren worden, sagt er sich, und
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