Härtling, Peter
mein erster Vater hat eine solche Stellung gehabt wie Nast. Ganz kindlich sehnt er sich fort, hinter die Fenster, in eine der Stuben, daß es wieder so sei wie früher. Nur bewahrt er sich dieses Früher nicht als wirkliches Bild, sondern als ein undeutliches, heimeliges Gefühl.
Du träumst, sagt die Mutter.
Ich träum nicht, liebe Mamma, erwiderte er, ich hab nachgedacht.
Übers neue Kloster?
Daß es hier auch einen Klosterhof gibt, wie in Lauffen.
Aber in Denkendorf ist doch auch einer gewesen, sagt Johanna.
Gewiß, doch meinen Sie nicht, dieser gleicht mehr dem von Lauffen?
Dem von Lauffen? Sie sieht ihn verdutzt an. Wie kommst du darauf? Du wirst dich kaum an ihn erinnern können. Sie schaut das Gebäude abschätzend an: Zu vergleichen sind sie nicht, nein.
Wirklich nicht, Mamma?
Diese und jene Ähnlichkeit könnte bestehen, sieht man genauer hin. Aber so war es nicht in Lauffen.
Dennoch setzte sich das in ihm fest. Er nahm sich vor, in dem Haus, das ihn derart eigentümlich an eine entlegene Vergangenheit erinnerte, Gast zu sein.
Dann riß ihn der Trubel mit, alle diese Vorbereitungen aufs Neue, die Einweisung in die Zimmer, die Führung durchs Kloster, über das schöne Dorment, und als die Eltern sie verlassen hatten, trafen sie sich zum ersten Abendessen, feierlich begrüßt von den Lehrern. Weinland hielt die erste Lesung. Es war ihnen angenehm unsicher zumute, aber manches blieb vertraut: sie saßen in derselben Ordnung wie in Denkendorf. Renz ihm gegenüber, Bilfinger rechts, Fink links von ihm.
Wann immer er am Haus des Verwalters vorüberkam, betrachtete er es in einer Art von Heimweh. (Einen solchen Satz zu schreiben, ist gefährlich. Ich rekonstruiere eine psychische Regung, die durch keinen geschriebenen Hinweis belegt ist. Da ich immer wieder seine Gedichte aus jener Zeit lese, vor allem die an Stella, an Louise – »Wann ich im Tale still und verlassen, und / Von dir vergessen, wandle« – habe ich den Blickwinkel in Erinnerung: diese Lust, aus der erdachten Distanz Nähe zu machen. So kann man argumentieren. Muß ich es? Ist es nicht verständlich, daß ein Halbwüchsiger, der seit mehr als zwei Jahren in einem strengen Internat lebt, Heimweh hat. In solch einem ähnlichen Haus hat er seine glückliche Kindheit verbracht. Diese ersten Jahre, von denen er so wenig weiß, werden immer heller.)
Es ist kein Sommer mehr. Wahrscheinlich frieren die Jungen schon in diesen letzten Oktobertagen. Um so mehr neiden sie jedem die warmen Stuben, die sie, eifrige Ausbrecher, auf ihren Besuchen im Dorf auch genießen. Er ist, man darf es nicht vergessen, damit die Phantasie sich kein falsches Bild mache, noch nicht siebzehn Jahre alt. Louise ist zwei Jahre älter als er. Wann hat er sie zum erstenmal gesehen? Flüchtig sicher schon am Tag der Ankunft. Denn beim Einzug der Promotion wird Louise mit ihren Schwestern, ihren Eltern vorm Haus gestanden und die Neuankömmlinge gemustert haben. Ob sie da schon Blicke wechselten, ob ihm da schon ihr »stolzer Gang« aufgefallen ist? Er muß sie bald wahrgenommen haben.Vorbereitet auf eine »große Liebe« war er durch das Geschwätz der Freunde, diese Prahlereien, Gerüchte von Amouren und Bilfingers stetes Hochgefühl, das ihn verdroß und an dem er sich gar nicht zu messen wagte. Ich bin sicher: er idealisierte sie, noch ehe er mit ihr gesprochen hatte, und es ist möglich, daß er sie, für sich, Stella nannte, noch ehe er ihren wahren Namen wußte. Aus seinen Gedichten und Briefen ist abzulesen, daß seine Empfindungen, so überschwenglich sie nach Worten suchten, nie ohne Angst waren, es könne allzu rasch vergehen.
Sie hatte ihm gefallen. Er wünschte mit ihr zusammenzutreffen. Er träumte von ihr. Er schrieb Gedichte, die seine Träume fortsetzten. Aber Nast hütete seine Töchter vor den Alumnen. Er mußte, um Louise zu erreichen, einen Helfer finden, den günstigen Augenblick abwarten.
An Hermann Hesses Vater hatte, nach der Flucht und Heimholung des Sohnes, der Ephorus von Maulbronn geschrieben: »… gestern ist im Lehrerkonvent über die Bestrafung Ihres Sohnes beraten worden, und ich habe die Pflicht, Sie von dem gefaßten Beschluß in Kenntnis zu setzen. Wir waren darin einig, daß die Verfehlung Hermanns nicht als vorbereitetes und zweckbewußtes Entweichen anzusehen, auch nicht eine Äußerung des Mutwillens oder Trotzes sei, und daß die große geistige Aufregung und Störung, in welcher er gehandelt hat, als Milderungsgrund betrachtet
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