Härtling, Peter
vegetieren, sich von den noch mehr Geschundenen anbeten lassen – und die wenigen, die ausbrachen, die zu vergessen trachteten, werden ebenso gezeichnet sein. Ihr Wissen ist zu rühmen, allerdings auch jenes, das sie sich gegen die verordnete Lehre aneigneten; sie sind befähigt, philosophische Systeme auszuklügeln, makellos aus dem Griechischen oder Lateinischen zu übersetzen, eigensinnig »die Schrift« auszulegen oder in Gedichten eine Welt zu entwerfen, in der die unterdrückten Hoffnungen endlich zu leuchten beginnen. »Der Schelling und der Hegel, der Uhland und der Hauff, das ist bei uns die Regel« – weiß ein stolzes Schwabenwort. Zur Regel gehört Hölderlin, scheint es, nicht.
Er ist eingezogen ins Stift. Er weiß rasch Bescheid. Er ist beliebt, die Freunde Neuffer und Magenau führen ihn ein.
Noch immer kann ich nicht erzählen. Dies alles wird für mich wenig anschaulich, bis auf seinen Ekel, den Drang auszubrechen. Viele fügen sich, ohne nachzudenken, der Ordnung. Jeder von ihnen gerät in dieses ausgeklügelte Räderwerk der Didaktik.
»Diese (die Studenten) werden gleich nach ihrer Hieherkunft in den Sprachen, der Geschichte, Logik, Arithmetik und Geometrie geprüft, und zu Baccalaurei gemacht. Sie besuchen sodann in den zwey ersten Jahren die Vorlesungen der Professoren der Philosophie, und die wöchentlichen Repetitionen der Repetenten –«
– morgens von 8 bis 11 gehen sie in die »Öffentlichen«, und dies ausgiebig, da sie so rechtens aus dem Stift herauskommen, und hocken dann entweder in den Wirtschaften oder in den Stuben der Juristen bei Most, bedenken nicht, was Bök ihnen aus seinem Schatzkästlein vorführen könnte, sondern debattieren über Kant, Schiller, Schubart; nachmittags von 2 bis 6 sind Übungen angesetzt –
»– werden von diesen alle Vierteljahre unter der Aufsicht des Superattendenten und des Ephorus examiniert und lociert, und empfangen nach ausgehaltenen Prüfungen, abgelegten öffentlichen Proben, auch vorhergehender letzter Location, welche von der philosophischen Fakultät selbst geschieht, die Magisterwürde .
Hierauf beschäftigen sie sich mit der Theologie, als ihrer Hauptbestimmung, und vollenden bey den Professoren dieser Fakultät den ganzen Cursus in dreyen Jahren … Nach Verfluß dieser drey Jahre werden sie vom herzoglichen Consistorio zu Stuttgart zum Hauptexamen geruffen. Wenn sie sich hier bewährt haben, so bekommen sie die Erlaubniß zu Ministerialverrichtungen, und werden gewöhnlicher weise alten oder erkrankten Geistlichen des Landes als Vikarien überlassen, oder versehen eine offen gewordene Stelle, bis zu derselben Wiederbesezung. Einige werden als Hofmeister und Privatinformatoren in und ausser dem Herzogthum … entlassen –«
wie Hölderlin, der schon während der Studienzeit die endgültige Flucht vorbereitete, indem er, auf Antrag, die Dreijahresfrist vorzeitig unterbrach und bei Charlotte von Kalb sich zum erstenmal als Hofmeister, einfacher gesagt: als Hauslehrer versuchte –
»– Diejenige, die sich durch Wissenschaft, Fleiß und gute Sitten auszeichnen, machen sich der Repetentenstelle fähig.«
So ist es. Wer sich willig beugte, wurde befähigt, das Gelernte weiterzugeben – eine Tradition des verschwiegenen Entsetzens.
Ich frage mich, wie die Zeit in diese Köpfe einging. Sie wurden abgeschirmt. Der absolutistische Herr in Stuttgart ließ dafür sorgen, daß es nur eine von höchster Stelle genehmigte Gegenwart gab: ohne weitergehende Anregungen und ohne Aufruhr.
Noch in Hölderlins Maulbronner Zeit, im Mai 1787, war Schubart, der Bewunderte, nach zehn Jahren Kerker vom Hohenasperg entlassen worden. Die Alumnen werden, das ist sicher, darüber geredet, sich gefreut haben. Aber sie werden die Freilassung weniger als politische Handlung, mehr als Naturgeschehen betrachtet haben. Und empfanden sich manche von ihnen nicht auch als Gefangene?
In Tübingen änderte sich das vorerst nicht. Die Lehrer, meist »von wissenschaftlicher Unbeweglichkeit«, schauten zurück, wagten sich mit dem Neuen nicht auseinanderzusetzen, hielten sich ans Überkommene. Das gelang auf Dauer nicht. Vor allem unter den Repetenten fanden sich die Fortschrittlicheren, die, zum Beispiel, den verschwiegenen, geschmähten Kant studiert hatten, von seinen Ideen eingenommen waren. Der Primat des sittlichen Handelns wurde bald erbittert diskutiert, rührte die Stiftler ungleich mehr als die Dogmatik Böks, oder später, Flatts.
Der Ephorus Christian
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