Härtling, Peter
das Stift, wann immer es möglich war, traf sich mit Freunden. Man ließ sich in die Tübinger Gesellschaft einführen, sorgte gleichsam für privaten Schutz. Das Stift, dieser ausladende und dennoch introvertierte Bau hoch über dem Neckar, war für die Stipendiaten weniger Herberge als Durchgangsheim. Verständlich, daß sich in dem kalten Gehäuse Freunde fanden, sich gegenseitig erwärmten. Sie verbündeten sich gegen die Attacken einer Institution, mit der Magenau im nachhinein bitter abrechnete: »Das theologische Stift war mir von der ersten Stunde bis zu meinem Abschiede unerträglich. Überal Unordnung und Planloßigkeit. Tausend Demüthigungen für den guten Kopf, alte mönchische Etikette, ein Regiment nach keinem vesten Massstabe – oh wie oft seufzte ich im Stillen um Erlößung! Bald war das einzige Institut Deutschlands ein Zuchthaus für Bonvivants , die man wieder dahin zurücksandte, bald ein Tollhaus für exaltirte Vikarien, bald eine Schenke für Säuffer, bald ein Hospital für Faulpelze, die um auszuruhen hieher flüchteten! – Am meisten kränkte mich die Entfernung der Vorgesetzten, u. überhaupt aller Professoren der Universität von ihren Zöglingen. Hoch herablikten sie auf den Studenten, und war er nicht Vetter oder Anverwandter, so bemerkten sie sein Dasein gar nicht« –
– Es ist schrecklich, daß man immer wieder auf diese »Vetterleswirtschaft« zurückkommen muß, diesen Verwandtenfilz – man wird, heiratet man irgendwo ein, gleich zur allseitigen Hilfe gedungen; Verwandtschaft bedeutet absolute Loyalität; eine für Schwaben durchaus angenehme, Fremde frösteln machende Eigenart –
– »Nur die Freundschaft und ihr stiller Genuß erheiterte die Stirne, die sich runzeln wollte.«
Das ist mit großen Worten gesagt und es wollte so hoch greifen. Es fällt mir schwer, Gespräche zwischen ihnen in dieser Tonart auszudenken, ich müßte mit ihren Gedichten und Briefen reden oder aus Klopstocks Gelehrtenrepublik zitieren, die sie sich zur Verfassung gemacht haben, die »Republik besteht aus Aldermänner, Zünften, und Volke«: natürlich befinden sie sich auch hier, in der imaginierten Welt, nicht unter den Geringsten, wissen Ruhm und Ehre für sich, denn die Aldermänner werden aus den Zünften gewählt, haben zwei Stimmen, können anklagen und verteidigen, benötigen keinen Anwalt und haben überdies die Macht, Knechte freizulassen.
Sie lesen sich gegenseitig ihre Gedichte vor, schließen sich vor den andern ab, machen sie neidisch, auch Bilfinger ist verstimmt, der gute Genosse der Klosterjahre, er steht plötzlich abseits, verläßt das Stift auch früher, um Jura zu studieren, wie Hölderlin es sich für sich selbst erhofft hatte.
Sie wehrten sich mit ihrer Hochstimmung. »Eine Seele in drei Leibern!« Und doch war er seinen Freunden im Anspruch und in der Hoffnung voraus. Noch war, im Winter 1788, von der großen Revolution nichts zu ahnen. Es muß aber Unruhe um sich gegriffen haben, Unwillen über die Zustände, Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit, Menschenwürde. Ich wage es kaum, diese Wörter zu schreiben. Sie sind so abgenutzt und mißbraucht. Für ihn waren sie blank, neu, und ich müßte, um mit ihm arglos sprechen zu können, alle verratenen Hoffnungen vergessen.
Ein paar Jahre später weiß er mehr.
Doch in diesem Augenblick, schon aus dem Glück, Gleichgesinnte gefunden zu haben, bricht er ganz naiv in Männerjubel aus: »Und du, o Freiheit! heiliger Überrest / Aus Edens Tagen! Perle der Redlichen« – er fordert die Despoten heraus und rühmt die »löwenstolze« Liebe des Vaterlandes. Er umarmt mit seinen Sätzen, zieht mit ihnen die Freunde an sich. Im Wort wird alles groß.
Und ich frage mich: Was ist das für ein Vaterland, das er immer wieder, als würde es wirklicher in der Wiederholung, besingen wird? Es ist gleichermaßen Märchen, in dem beschönigte Vergangenheit gesammelt wird, wie ein intellektueller, die Wirklichkeiten umstürzender Entwurf. Sie haben sich die Köpfe heiß geredet, wenn es um die Heroen der alten Zeit ging, und es waren ihre Helden immer dann, wenn sie gegen Ungerechtigkeit, Unredlichkeit, Unfreiheit ins Feld zogen. Wenn sie ritterlich waren. Einen solchen neuen Ritter erwarteten sie. Das eine Vaterland nämlich, das märchenhafte, breitete sich als Spielzeuglandschaft aus, bestückt mit Burgen und Schlössern, überzogen von Wäldern, eine Vergangenheit aus schiererPhantasie, während in dem anderen Vaterland allein
Weitere Kostenlose Bücher