Härtling, Peter
der Wurmlinger Kapelle.
Seine Stadt war schmutzig, die Straßen waren verwahrlost und abends ohne Licht. »In vielen Gassen, besonders in der untern Gegend der Stadt sieht man vor vielen Häusern große Misthaufen liegen. Eine Unanständigkeit, die sich doch wenigstens in einer Stadt nicht finden sollte, welche sich die zweyte Haupt- und Residenzstadt nennt.« Wahrscheinlich wurde überdies der tägliche Unrat in die Gassen geworfen, in »den Kandel«, wo er schimmelte und gärte, man zog es darum vor, in der Mitte der ohnedies morastigen Gassen zu gehen, wo einen dann die Fuhrwerke bespritzten. Nachts konnte man nicht ohne Laternen ausgehen.
Die Stadt hatte im April 1782, also sieben Jahre, ehe Hölderlin aufs Stift kam, 5554 Einwohner. Immerhin wurde ihre Moral von Friedrich Nicolai, dem auch die herbe Beschreibung der Zustände zu danken ist, gelobt: »In Ansehung der unehelichen Geburten unterscheidet sich Tübingen von allen anderen Universitäten auf eine sehrrühmliche Art; denn es ist bekannt, daß sie sonst auf Universitäten sehr zahlreich zu seyn pflegt. Unter allen geborenen Kindern zu Göttingen, zu Leipzig und Jena –«
Nicolai hatte, wenn er von Deutschland redete, von diesem Vaterland schrieb, eine andere Landkarte vor sich, zahllose Grenzbäume, Zollstationen, wußte weniger die Namen von Ministern, sondern die von Herzögen, Großherzögen, Fürsten, Königen, während ich, wird hier von Leipzig geschrieben, die Landschaft meiner Kindheit erinnere, etwas, das vergangen oder auf kindlichem Stand geblieben ist, ich rede von Republiken, von denen auch er anders und verängstigt reden würde, Bundesrepublik und Deutsche Demokratische Republik: Landkarten wandeln sich, es braucht viele Farben zur Erläuterung –
»– ist im Durchschnitt das siebente und zu München … das vierte Kind unehelich; in Tübingen aber das dreyunddreyssigste.«
Offenbar waren die fünfhundert Studenten brav, allzu beschäftigt mit sich selbst, mit ihrer Arbeit, oder die Tübinger Mädchen gut gehütet. Allerdings waren auch die Beziehungen zwischen Universität und Stadt gespannt. Handwerker und Weinbauern verachteten den Hochmut der Stipendiaten.
Ich sage mir immer wieder: Stell dir keine Stadt vor, eher eine Landsiedlung, mit einer Bevölkerung, die zur Mehrzahl sehr arm war, Kleinbauern, Winzer, Handwerker, und ganz unten, ganz am Ende die Knechte, die Boten, die Mägde. Bei weitem in der Minderzahl, doch das städtische Leben bestimmend, die Beamten Carl Eugens und die Professoren. Für sich wiederum, gehätschelt und gescholten, die Studenten, die, wenn sie keine Stiftler, keine Theologen waren, privat wohnten und allein schon durchihre Privilegien ihre Umgebung beeinflußten. Eigentümlich war die Stellung der Repetenten, der, würde man heute sagen, wissenschaftlichen Hilfskräfte. Sie mußten sich im Studium ausgezeichnet haben, befanden sich auf dem Weg zum Professor. Freilich verbündeten sie sich meist mit den Stipendiaten, waren mitunter unbotmäßig und den über Ruhe und Ordnung wachenden Beamten ein Dorn im Auge.
Für Hölderlin galten noch die Stiftsstatuten aus dem Jahre 1752, unbeschreiblich engstirnige, einschüchternde Verhaltensmaßregeln, die selbst vom Ephorus in manchen Passagen schlicht für lachhaft gehalten wurden:
»Alle Stipendiaten sollen sich der vergeblichen Führung des Namens GOttes, auch aller Flüche und Schwüre, als wider alle göttliche und menschliche Gesetze lauffende Frevel enthalten. Der Leichtsinn und böse Gewohnheit hierin solle mit Verweisung des Stipendii, die aus Übereilung oder Zorn geschehene Übertretung aber mit dem Carcere gestraft, das beharrliche Fluchen, Schwören und GOttes-Lästern hingegen in das fürstliche Consistorium berichtet, und anderen zum Exempel mit strenger Straffe angesehen werden. Ein jeder Stipendiat solle auch gehalten seyn, wann er solche Excesse hört, dieselbe dem Inspectorat anzuzeigen.«
Sie sind es gewöhnt, gescholten, geduckt, zur Denunziation angehalten zu werden. Diesen Preis haben sie als Stipendiaten des Herzogs und des kirchlichen Consistoriums zu zahlen. Schließlich werden sie nach vier weiteren Jahren geübter Verbeugung vor Gott und dem Landesherrn zur geistlichen und geistigen Elite des Landes zählen; und die ist mit keiner in einem andern deutschen Land vergleichbar. Von den zahllosen Gebrochenen, denpsychischen Krüppeln, den neurotischen Liebedienern wird nicht mehr die Rede sein, sie werden auf ihren Pfarrstellen
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