Härtling, Peter
Friedrich Schnurrer war ohne Zweifel einer der Aufgeschlossensten unter den Lehrern. Er war nicht Theologe, sondern Orientalist, gestattete den Studenten eine gewisse Freizügigkeit, reagierte aufgeklärt und hielt, als das Fieber der Französischen Revolution auf Tübingen übergriff, dem Herzog durchaus souverän stand.
Hölderlin, jetzt bin ich wieder bei ihm, hatte, wenngleich er sich immer wieder der Stiftsfron widersetzte, der Mutter in Nürtingen den Abbruch des Studiums und einen Wechsel zur Juristerei vorschlug, dennoch Glück; seine nächste Umgebung war ihm stets wohlgesonnen, in Magenau wie in Neuffer, fand er Gleichgesinnte, »eine Seele in drei Leibern waren wir.«
Beide waren ihm um zwei Jahre voraus. Magenau, weniger beweglich, hatte sich Ludwig Neuffer untergeordnet, der in dem Dreierbund zwar das Wort führte, routiniert ein mittelmäßiges Gedicht nach dem anderen verfaßte, mit mancher literarischen Größe korrespondierte und dennoch in Hölderlin den Dichter sah, ihn zum Mittelpunkt des Freundesbundes machte.
Ich schlage die Bilder auf, als blätterte ich in einem Photoalbum. Ich kenne diese Gesichter, doch mit dem Unterschied, daß sie mir nie lebendig begegnet sind, daß ich sie nur vom wiederholten neugierigen Ansehen erinnere, Gesichter auf Gemälden, Stichen, Scherenschnitten, womöglich gar nicht »echt«, ebenfalls aus der Erinnerung gemalt oder nach einer schon miserablen Vorlage, Gesichter, die kaum etwas wiedergeben von dem, der vor eineinhalb Jahrhunderten handelte, redete, dachte, fühlte. Mein Gedächtnis projiziert, ich weiß es, Gesichtszüge mir Vertrauter, Verwandter, Freunde und Bekannter auf das Unbelebte, ich vergleiche, obgleich ich es mir verbiete. Der könnte ein wenig von dem haben, ebenso impulsiv und ein bißchen oberflächlich sein, gereizt, wenn er in seiner Eitelkeit getroffen wird; und die ist eine von denen, die immer still dabeisitzen, lächelnd, und niemand weiß, ob sie sich ihre Gedanken machen oder nur dumm sind. Es sind ausgekühlte Gesichter, gleichsam Beispiele für die Phantasie. Manche von ihnen sehe ich selbst, wenn ich die Augen schließe, sie verändern sich, werden, vor allem in Träumen, gegenwärtig.
Hölderlin, den ich jetzt wieder ganz jung sehe, als Sechzehn- oder Achtzehnjährigen, ephebenhaft, beweglich, eine Erscheinung, die mich in ihrer Verletzbarkeit rührt – oder als Alten, nach der Schreiberschen Zeichnung, diesen Greis im Tübinger Turm, mit derber gewordenen Zügen, leicht nach vorn gebeugtem Gang, oft seine Hände vorhaltend, als markiere er fürs Gegenüber einen Abstand.
Neuffer, den ein Ölbild schon als Ulmer Pfarrer vorführt, nicht mehr jung, ein leicht verfettetes Gesicht unter einer Pelzmützenfrisur. Die Eitelkeit spannt jedes Fältchen – ob er so schon in Tübingen war? So aufs eigene Aussehen versessen, so ruhmgierig? Die Briefe lassen es vermuten. Er war der Eiferer in diesem Bund, mit dem er sich selbst zu bestätigen suchte.
Magenau war gewiß zurückhaltender, vorsichtiger. Ich habe ihn mir derb vorgestellt, aber das Bild, das ihn als Neununddreißigjährigen wiedergibt, zeigt einen vergrämten Träumer: Er ist Pfarrer in Niederstotzingen, läßt sich lokale Märchen und Sagen erzählen, schreibt sie auf, ein in dieser Enge geschätzter Mann, »unser Herr Pfarrer«.
Wenn ich sie ansehe, sie charakterisiere, schreibe ich meine Zweifel mit. Vielleicht trügen die Bilder. Jedes Lächeln, jede verzogene Miene könnte mich Lügen strafen. Und ich höre ja nicht eine einzige Stimme, auch die Hölderlins nicht, von der ich behaupte, sie sei hell, fast fistelig gewesen, nur um der Gestalt eine winzige Spanne näher zu sein. Sie alle sind stimmlos. Wenn ich sie sprechen lasse, muß es so sein, daß man gleichwohl ihre Stimmen »hört«.
In den beiden ersten Stiftsjahren ist etwas mit ihm vorgefallen, für das es kein Datum, keinen Anhaltspunkt gibt: Er ist aufgewacht aus der Ergebenheit, aus der ihm in sechs Seminarjahren eingeredeten Demut. Mit einem Mal sieht er, was um ihn herum geschieht, hält sich nicht an die von Lehrern, Verwandten und der Mutter gezogenen Grenzen.
Sei lieb. Du tust es für dich und für uns.
Für wen?
Die Umgebung war ihm gleichgültig. Sie unterschied sich von Denkendorf und Maulbronn nur durch den Anspruch. Er war nicht mehr Alumne, er war Student. Dreck, Unmenschlichkeit, Bestechlichkeit waren nicht gewichen. Allerdings konnte er sich der Gemeinschaft leichter entziehen. Man verließ
Weitere Kostenlose Bücher