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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hölderlin
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Mutter unterhielt sie sich nicht mehr. Fritz vermied es, mit ihr allein zu sein. Um so länger arbeitete er an den Nachmittagen mit Köstlin und mit Kraz, der ebenfalls ins Haus kam, damit es an der Vorbereitung aufs Landexamen nicht mangele.
    Latein.
    Griechisch.
    Hebräisch.
    Religion.
    Dialektik.
    Rhetorik.
    Johanna Gok bereitete sich diese ganzen Wochen auf ihre zweite Witwenschaft vor. Kein Trost erreichte sie. Ich weiß, daß er sterben wird, antwortete sie ihrer Mutter, die ihr Hoffnung einzureden versuchte. Sie gäbe zu schnell, zu leicht auf. Wenn sie schon keine Lebenskraft habe, wie solle der Mann sie haben. Den ältesten Sohn ärgerte ihr Anblick. Er erinnerte sich an die letzten beiden Jahre in Lauffen, wie die Mutter oft tagelang am Tisch in der Stube saß, Tränen in den Augen, Gebete flüsternd, mit einem schlimmen Geschick allzu vertraut. So mochte er sie nicht, so fürchtete er sie: Ihre Weinerlichkeit, mit der sie alles durchsetzte. Rike versuchte, der Mutter zu gleichen, ahmte sie in allem nach, »ans Wasser gebaut« wie sie ist, sie hielt die Hände stets gefaltet, flüsterte selbst mit dem Bruder. Übertreib’s net, Rike, herrschte er sie an. Was er der Mutter gern sagen würde, ließ er die Schwester wissen.
    Gok stirbt mühsam und elend, als werde ihm allmählich der Atem entzogen. Die Aderlässe schwächen ihn zudem. Alle seine Seufzer sind in dem still gewordenen Haus zu hören. Es ist schon schlimm, sagt Köstlin, lern weiter, Fritz. Wie lautet der Imperativ von dormire?
    Am 13. März 1779 stirbt Gok. Er ist dreißig Jahre alt geworden. Er liegt hoch aufgebettet, steif. Die Kinder werden zu ihm geführt. Nehmt Abschied von eurem Vater. Die Mutter scheint abwesend in ihrer Trauer, und die Hilflosigkeit der Kinder ist ihr gleichgültig. Wieder hilft Bilfinger. Aber auch Köstlin, Dekan Klemm und der Schultheiß. Sie ist umgeben von Gutwilligen, von Freunden.
    Der Weg zum Friedhof an der Kreuzkirche ist nicht weit. Am Grab spricht der Dekan. Friedrich hört nicht, was ersagt. Es ist hell, fast schon warm. Viel Verwandtschaft ist gekommen. Sie reißen ihn an sich, legen die Hände auf seinen Kopf. Er wäre gern allein. Er hat den zweiten Vater verehrt, vielleicht hat er ihn geliebt. Aber in ihm hat er den ersten gesucht, den »wirklichen« Vater, und so schreibt er später, die Nacht gegen den Vorfrühlingstag setzend, vom Begräbnis des ersten Vaters: »Der Leichenreihen wandelte still hinan, / Und Fackelschimmer schien auf des Teuren Sarg, … Als ich, ein schwacher, stammelnder Knabe noch, / O Vater! lieber Seliger! dich verlor.« Er war damals zwei Jahre alt, und an der Bestattung hat er bestimmt nicht teilnehmen dürfen, sie hatten ihn ins Bett gelegt, unter der Obhut einer weniger beteiligten Frau, aber danach hatten sie es ihm erzählt, wahrscheinlich die Mutter, versunken in solchen Abschieden, hat es ihm immer wieder berichtet, bis er es sah, als wäre er dabeigewesen.
    Er besuchte das Grab Goks oft, ohne dazu angehalten zu werden; es war eine Station auf seinen Gängen durch die Stadt, ins Freie hinaus. Im alten Teil des Friedhofs entdeckte er das Grab vom Schultheiß Johannes Hölderle, der ein Vorfahr des ersten Vaters war.
    Er fügt sich der Weiberwirtschaft, dem zurückgezogenen Leben im Mutterhaus. Seine Phantasie bewahrte die Väter, verschwieg oder vergrößerte sie, machte sie zu Helfern, zu Führern, wiederholte sie in bewunderten Freunden oder vergeistigte sie in Sätzen, in Gedichten, diesen zweiten Vaterländern, in denen die Mütter wenig zu suchen haben.
    Jetzt sind sie da, sind um ihn. Sie verwalten die Wirklichkeit. Sie planen und bereden die Zukunft. Auf sie ist Verlaß. Ihr zurückgenommener Schmerz überträgt sich aufihn als eine dauernde Stimmung, als ein »Hang zur Trauer«.
    So sehr sie auch sein Leben zu beeinflussen trachten – und jede Heimkehr ist eben auch eine Flucht ins Mutterhaus –, so wenig können sie es prägen. Stärker sind die Schatten der Väter.
    Er klammert sich nicht an Weiberschürzen. Im Gegenteil – nach dem Tod des Vaters findet er endlich die »Gespielen« seiner »Einfalt«, und die Großmutter hat es schwer, ihn in der Ordnung zu halten. Wahrscheinlich hat auch Köstlin ihn gewarnt: Du kannst es dir nicht leisten, Fritz, du hast schon deine Pflichten. Er hat sie. Er vergißt sie.
    In der Schule hat er sich Achtung verschafft.
    Hören Sie zu, sagt er zu Johanna, und sie erinnert sich der Gokschen Eigenheit, die der Junge

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