Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
lieber bei ihnen zum Essen geblieben wäre, aber die Grenze für das, was Gisela akzeptieren konnte, war bereits erreicht.
Das Haus, in dem Emma wohnte, war vom Beginn des 20. Jahrhunderts und vier Stockwerke hoch. An den Fenstern standen Topfpflanzen, deren Blätter in alle Richtungen zu wachsen schienen, dazwischen saßen oft Katzen und schauten hinaus. Der Vorort wimmelte von Katzen, sie waren billiger zu halten als Hunde. In der Siedlung mit den Einfamilienhäusern jenseits der Bahngleise wohnten die Hundebesitzer. Dort war alles geordnet. Die Gärten waren gepflegt, die Hundesteuer bezahlt, die Hunde wurden auf täglichen Fitnessspaziergängen an der Leine geführt, hier gab es kein wildes Gerenne von Katzen in den Höfen. Es dauerte dreizehn Minuten von Emmas Wohnung zu Julias Haus auf der anderen Seite der Bahngleise. Diese dreizehn Minuten hätten auch dreizehn Stunden Flugreise sein können, so unendlich weit wie der Abstand zwischen zwei Erdteilen. Eine Tatsache, die sie nicht verstanden oder formulieren konnten, die sie aber spürten.
Sie näherten sich langsam dem Haus. Wenn man lange genug auf den Asphalt starrte, sah man Miniwege, die sich durch Miniorte schlängelten, in denen Miniwesen lebten. Eine parallele Miniwelt, die von Insekten bewohnt wurde und jederzeit von den beschuhten Füßen der Menschen zerstört werden konnte. Emma setzte ihre Schritte sorgfältig, sie ging so vorsichtig wie möglich, um nichts und niemanden zu zertreten, und dabei hörte sie doch, dass Julia flacher atmete.
Sie blieben am Zaun stehen. Gisela lief im Haus zwischen Küche und Esszimmer hin und her. Im Wohnzimmer saß Carl im Sessel und las die Zeitung. Man konnte sein Schweigen beinahe hören.
Julia warf Emma einen raschen Blick zu, dann holte sie tief Luft und öffnete das Gartentor.
»Bis morgen!«
Emma klang fröhlich, aber Julia nickte nur kurz, ohne sich umzudrehen.
Carl schaute hoch und lächelte, als Julia die Diele betrat.
»Hallo, mein Mädchen. Komm, damit ich dich anschauen kann!«
Julia zog die Sandalen aus und ging zu Carl. Der starke Geruch nach Rasierwasser, der ihn umgab, stach ihr in die Nase. Über seinem Kopf hing eine fast sichtbare Wolke aus Duft, als würde sie ihn bewachen. Annika hatte erzählt, sie glaube daran, dass jeder Mensch einen Schutzengel hat. Vielleicht wohnte Carls Schutzengel in dieser Wolke aus Rasierwasser? Sie wollte gerne glauben, dass alle, auch sie selbst, einen Schutzengel hatten, aber Emma hatte sehr richtig erwidert, dass es nicht sein konnte, weil den Menschen ständig schreckliche Dinge widerfuhren. Oder manche Schutzengel machten ihren Job einfach nicht gut.
»So, so, komm näher!«
Carl klang ein wenig ärgerlich, er streckte die Hand aus und zog Julia zu sich. Nahm ihre Hand und hielt sie zwischen den seinen. Ein leises Kitzeln an der Handfläche ließ sie zusammenzucken, aber Carl hielt die Hand fest und streichelte sie mit sanften Kreisbewegungen des Daumens. Zum zweiten Mal an diesem Tag verstummte die Welt. Wohin verschwanden alle Geräusche? Sie konnten nicht einfach weg sein, das war ganz unmöglich. Ein hysterisches Kichern wollte vom Bauch aus nach oben, blieb jedoch im Hals stecken, als sie Carls hellblaue Augen sah, die durch ihren Körper hindurchschauten, als sei sie durchsichtig. Es gab nur ein Geräusch in der Stille, das sie zunächst nicht lokalisieren konnte, es wurde immer größer und übernahm das Zimmer und die Welt. Carls heftiges Atmen. Oder war es ein vorbeifahrender Lastwagen? Julia wusste es nicht. Sie stand in einer unbequemen Haltung, leicht nach vorne gebeugt, konnte sich nicht rühren. Stand einfach da.
Plötzlich näherten sich Giselas rasche, klappernde Schritte.
»Mein Gott, Julia, steh gerade! Du musst an die Haltung denken!«
Carl ließ ihre Hand los und faltete die Zeitung zusammen. Der Zauber war gebrochen, und Julia hörte, wie die Geräusche wiederkamen. Sie richtete sich auf und sah, wie Gisela die letzten Schüsseln auf den gedeckten Esstisch stellte.
»So, das Essen steht auf dem Tisch! Holst du bitte deinen Bruder, Julia?«
Julia nickte und lief in großen Schritten die Treppe hoch. Sie blieb vor der Tür zu Eriks Zimmer stehen und wartete. Sie versuchte, tief und ruhig zu atmen, durch die Nase ein und durch den Mund aus. Aber ihr Körper widersetzte sich und atmete weiter kurz und stoßweise. Erst als sie den vertrauten Griff der Klaue im Magen spürte, wurde der Atem wieder normal. Es dauerte nur ein paar
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