Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
violette Verfärbungen auf dem Deckel ab.
»Die chemische Reaktion ist ganz einfach. Die Aminosäure wird decarboxyliert, das heißt CO 2 wird abgespalten und die Aminogruppe auf Ninhydrin übertragen. Aus der Aminosäure entsteht ein Aldehyd. Mit einem zweiten Ninhydrin-Molekül wird dann der Farbstoff gebildet, den wir hier sehen.«
Bulemann nimmt den Leinendeckel wieder aus dem Trockenschrank und legt ihn auf den Labortisch zurück. Dann nimmt er eine Kamera und umkreist damit das Beweisstück. Das Blitzlicht, das synchron von lautem Klicken begleitet wird, bildet eine fast magische Allianz im Raum, bis der Kameramotor mit leisem Surren den Film zurückspult. Bulemann öffnet die Kamera, nimmt den Film heraus und drückt ihm einen der jungen Männer in die Hand.
»Bringen Sie den bitte ins Labor und machen Sie ordentlich Druck. Und wir sehen uns nach dem Mittag in zirka eineinhalb Stunden wieder. Schauen wir mal, was unser Identifizierungssystem AFIS dann ausspukt. Wir haben landesweit immerhin an die 46.000 Fingerabdrücke digital gespeichert.«
Bulemann hebt den Arm und eilt aus dem Raum. Die beiden jungen Männer folgen ihm. Swensen wendet sich an Elisabeth Karl.
»Ich würde gern irgendwo ’was essen gehen. Darf ich Sie einladen?«
»Ein anderes Mal gerne, aber ich mach’ jetzt Feierabend.«
»Schade, können Sie mir etwas empfehlen?«
»Ja, wenn Sie rauskommen, die erste Straße rechts gibt es einen kleinen schnuckeligen Inder. Klein aber fein, wenn Sie scharfes Essen mögen?«
»Sogar sehr gern! Danke für den Tipp!«
Swensen folgt der Beschreibung und findet ohne Probleme den indischen Snackladen. Ein gutgelaunter Inder strahlt ihn mit schneeweißen Zähnen an. Er trägt einen blauen Turban und hat einen mächtigen Vollbart. Aus dem Lautsprecher tönen flirrende Tabla-Klänge. Swensen ordert vier Samosas, stellt sich damit an einen der Stehtische und beißt hungrig in die erste der goldgelben Kartoffelteigtaschen. Das feine Aroma der Currymischung bringt ihn in unerwartete Gourmetstimmung. Er wippt mit den Füßen zur Musik, genießt jeden Bissen und bestellt sich sofort noch eine weitere Portion, dazu einen grünen Tee. Da klingelt sein Handy. Er nimmt es aus seiner Manteltasche und drückt die Abnehmtaste.
»Swensen!«
»Anna hier! Ich steh vor deiner Haustür. Wo bist du?«
»Oh, Mist! Ich hab völlig vergessen dich anzurufen!«
»Was heißt das? Wo steckst du?«
»In Kiel!«
»In Kiel? Ach nein, Jan! Das ist mein erster freier Tag seit langem.«
»Tut mir leid, aber hier hat sich alles überschlagen.«
»Ist doch immer so!«
»Sei bitte nicht sauer. Wir haben im Moment eine so heiße Spur, dass mein Kopf keine Minute frei war.«
»Ich hasse deine dämlichen Entschuldigungen.«
»Anna, bitte. Ich mach das wieder gut, versprochen.«
»Und was soll ich jetzt den ganzen Tag machen?«
»Komm doch nach Kiel. Mein Job dauert hier höchstens noch drei Stunden. Wir treffen uns, sagen wir um vier, am Hafen vor dem Schwedenkai. Was hältst du davon? Wir gehen bummeln, schön essen, ins Kino.«
»Überredet!«
»Heh, Anna!«, bricht es aus Swensen heraus, wobei er im selben Moment über sich selbst erstaunt ist, ob seiner massiven Gefühlsäußerung. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass sie so prompt zusagt.
»Das finde ich richtig toll«, ergänzt er etwas verlegen. Es entsteht eine ungewollte Pause. Anna scheint ihn bewusst hängen zu lassen.
»Sag mal, wie kommt das überhaupt, dass du in Kiel bist?«, fragt sie dann doch.
»Ich musste hier unbedingt ein Foto überprüfen lassen. Im Landeskriminalamt haben die einfach ganz andere Möglichkeiten. Dann hat sich noch das mit dem Storm-Manuskript ergeben! Heute Morgen wurde es gerade auf Fingerabdrücke untersucht und wir können uns gleich das Ergebnis ansehen.«
»Übrigens, heute ist die erste Folge des Romans in der ›Husumer Rundschau‹ erschienen.«
»Na, dann hat Bigdowski ja sein Ziel erreicht, obwohl ein gewisser Polizist, der natürlich ungenannt bleiben möchte, das mit aller Macht verhindern wollte«, sagt Swensen. Der Groll in seiner Stimme ist unüberhörbar.
»Du sollst deinen Nächsten …«
»Ein Buddhist ist auch nur ein Mensch. Apropos Storm-Roman. Wie findest du es, dieses Weltereignis?«
»Nun ja, so auf den ersten Blick ganz interessant. Hat schon was Biografisches das Ganze. Ein alternder Dichter, der sein Leben lang nur Novellen geschrieben hat, versucht in seinen letzten Jahren heimlich einen Roman
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