Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
zu schreiben. Er verschweigt es allen seinen Freunden, weil er Angst hat, er könne ihm nicht gelingen. Das ist zumindest das, was sich bist jetzt aus dem ersten Abdruck ersehen lässt. Aber wenn du mich fragst, wirken Form und Sprache etwas zu gestelzt. Storms sparsamer Stil, bei dem er ja eher mit Worten geizte, scheint in seinem Roman wie aufgehoben. Alles etwas zu überladen, ja manchmal fast kitschig. Allerdings bin ich keine Storm-Expertin.«
»So genau wollte ich das gar nicht wissen. Mich interessiert nur, ob du ihn für echt hältst, rein intuitiv.«
»Also das weiß ich beim besten Willen nicht, nicht mal intuitiv. Außerdem haben die Fachleute das doch schon lange entschieden.«
»War ja auch nur so eine Idee. Also du kommst? Ich freue mich!«
»Bis gleich, ich freu mich auch!«
Swensen steckt das Handy wieder in seine Manteltasche zurück, isst seine Samosas, bezahlt bei dem freundlichen Inder und macht sich auf den Weg zurück ins Landeskriminalamt. Das Wetter ist nieselig grau. Fast alle Fußgänger, die ihm begegnen, haben ihre Mantelkrägen hochgezogen und einige von ihnen machen mit ihren roten verschnupften Nasen dazu noch ein mürrisches Gesicht. Auf der Straße brandet ein gnadenloser Autoverkehr. Die Auspuffrohre dampfen in der Kälte.
Ein Bus schreckt Swensen aus seinen Grübeleien. Er hat direkt neben ihm gehalten und die Türen geöffnet. Er steht wieder mitten im Leben. Zwanzig Minuten später zeigt ihm Robert Bulemann die Fotos von den Fingerabdrücken.
»Wir unterscheiden drei Kategorien von Fingerabdrücken. 60 % der Bevölkerung besitzt ein Schleifenmuster«, sagt Bulemann und deutet auf ein Foto. »Wie hier. Ein deutliches Schleifenmuster. Die meisten der gefundenen Abdrücke haben deshalb dieses Muster.«
Dann nimmt Bulemann ein Foto und legt es direkt vor Swensen.
»Hier haben wir ein typisches Bogenmuster. Das gibt’s nur bei 5 %. Wirbelmuster haben wir keins gefunden. Um einen Abdruck 100%ig zu identifizieren, sind 12 Übereinstimmungen notwendig. Nur wenn das Grundmuster klar zu erkennen ist, reichen auch acht unabhängige Merkmale aus.«
Swensen nickt zwar, aber er hat es nur theoretisch verstanden. In der Praxis ist er noch nie dabei gewesen. Er erinnert sich nur daran, dass Fingerabdrücke aus unzähligen Papillarlinien bestehen, die schon beim Embryo vom vierten Monat an nachgewiesen werden können. Sie bleiben bis zur Auflösung der Haut nach dem Tod. Solange erzeugen diese Linien einen einmaligen Abdruck.
»Fingerabdrücke sind selbst bei eineiigen Zwillingen nicht identisch«, referiert Bulemann an die jungen Männer gerichtet, die sich auch wieder eingefunden haben. »Übrigens bestehen wir auf 12 Übereinstimmungspunkten, weil vom FBI einmal Abdrücke von zwei verschiedenen Personen gefunden wurden, die in sieben Punkten identisch waren.«
»Bei zwei Menschen?«, fragt einer der jungen Männer.
»Ja!«, bestätigt Bulemann. »Noch nie zuvor hat man bei zwei Menschen so viele gemeinsame Punkte gefunden. Und die Typen vom FBI haben immerhin etliche Millionen Fingerabdrücke in ihren Dateien.«
Bulemann nimmt die Fotos und scannt sie eins nach dem anderen ins AFIS-Identifizierungssystem ein. Dann lädt er den Abdruck mit dem selteneren Bogenmuster auf den Bildschirm.
»In der Kartei des Bundeskriminalamts sind so an die drei Millionen Abdrücke gespeichert. Also gucken wir erstmal landesweit, was wir da geboten kriegen.«
Bulemann fährt den Cursor auf ›Suchen‹ und klickt die linke Maustaste. In unvorstellbarer Geschwindigkeit rasen unzählige Linienmuster über die Mattscheibe.
»Es gibt schon moderne Computer, die vergleichen 400 000 Prints pro Sekunde. Bei uns dauert das leider ein paar Minuten«, prophezeit Bulemann. »Gibt es noch Fragen?«
Niemand antwortet. Die Gruppe verlässt den Raum. Auf dem Flur öffnet Swensen ein Fenster und atmet gierig die frische Luft ein.
»AFIS wird jetzt bis zu hundert Vorschläge machen«, sagt Bulemann, »die darf ich dann noch auswerten.«
»Oh!«, erwidert Swensen sichtlich enttäuscht und schaut auf die Uhr – 12:43. »Ich dachte wir bekommen gleich ein fertiges Ergebnis.«
»Schön wär’s! Aber trotz Computer steht am Schluss immer noch der Mensch. Zum endgültigen Nachweis der Übereinstimmung von Karteiabdruck und Tatortspur ist schon exakte Feinarbeit nötig. Handarbeit sozusagen. Die einzelnen Minuzien müssen in Lage und Erscheinungsform in Übereinstimmung gebracht werden. Aber warten wir doch erst
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