Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
Vom Netzwerk:
unterdrücken und beginnt seinen Vortrag.
    »Am Ende des 19. Jahrhunderts hat ein Großteil Europas das Stadium des Industriekapitalismus noch nicht erreicht. Die Länder wurden in der Hauptsache von Bauern bevölkert.«
    Er merkt, wie unkonzentriert er ist, dass seine Stimme unangenehm monoton klingt. Es bereitet ihm Mühe sich zu sammeln, die Sätze mit mehr Modulation vorzutragen, denn parallel bedrängen ihn seine Erinnerungen, penetrant und verselbständigt, während er seinen Vortrag wie in einem Vakuum abliest.
    »Europa war zwar real noch ziemlich bäuerlich, aber ideologisch schon bürgerlich. Die Gesellschaft war geprägt von bürgerlichen Tugenden wie Ehrenhaftigkeit, Nationalismus, strenger Familiensinn und Pflichtgefühl«, hört er seine Stimme. Der Gedankenfilm läuft weiter.
    Er wusste damals schon genau, was er wollte. Nach zwei Monaten war es ihm gelungen, seinen Zellengenossen davon zu überzeugen das Bett zu tauschen. Er belegte das obere, Klemens Moses, so hieß der andere, bekam das untere. Klemens war evangelisch und streng gläubig. Am Anfang ging ihm das christliche Gehabe ganz schön auf den Zeiger. Dein großer Lenker da oben hat nichts getan um dir das hier zu ersparen, versuchte er Klemens zu missionieren. Der saß wegen Unterschlagung. Er selbst war nur hier, weil die Bullen Sauglück gehabt hatten. Trotz der kleinen Panne würde er sein Leben auch weiter selbst in die Hand nehmen. Bald bestimmte er, was in der Zelle lief und was nicht. Es gab zum Beispiel nur einen kleinen Tisch unter dem Gitterfenster. Den riss er sich unter den Nagel, so dass er hauptsächlich ihm zu Verfügung stand und auch das Regal daneben belegte er zu dreiviertel mit seinen Sachen. Wenn er las, und das tat er die meiste Zeit, traute Klemens sich nicht ihn anzusprechen. Da genügte ein scharfer Blick. Auch als er später anfing an der Romanfassung zu schreiben, blieb er immer ungestört. Es war fast so, als sei Klemens nicht im Raum gewesen.
    »Und auch der Dichter Theodor Storm vertrat als ein Sohn dieser Zeit diese strengen Tugenden von Familiensinn, Ehre und Pflichtgefühl. Sein Gesellschaftskreis setzte sich aus dem kleinstädtischen Mittelbürgertum zusammen. Hier fühlte er sich unter Kaufleuten, Ärzten, Beamten und Handwerkern sicher. Die Menschen der Großstadt waren ihm eher fremd.«
    Für Klemens war er bald zum großen Vorbild avanciert, jemand der ›den Coup‹ gelandet hatte, der Grips und es ›voll drauf‹ hatte. Am Ende glaubte er fest daran mit ihm befreundet zu sein. So ging seine Rechnung auf. Bald konnte er Klemens manipulieren, wie er wollte und das sogar über dessen Haftzeit hinaus. Als seine eigene Entlassung bevorstand konnte er sich auf ihn verlassen, obwohl der bereits seit Jahren wieder frei war. Mit Hilfe des Sozialamtes wurde ihm bereits im Knast eine neue Wohnung besorgt. So hatte er erst mal ein Zuhause, als er wieder draußen war. Es brauchte eine längere Zeit sich an die Freiheit zu gewöhnen. Morgens, wenn er erwachte, blieb er oft im Bett liegen und wartete darauf, dass jemand die Zellentür aufschließen würde. Selbst die Geräusche des Alltags waren wieder gewöhnungsbedürftig, das Klingeln des Telefons, das Hupen der Autos. Er war schreckhaft, fühlte sich häufig unwohl. Ihn plagten Kopfschmerzen. Er wusste genau, die Bullen waren noch immer hinter ihm her und natürlich bemerkte er, dass sie ihn observierten. Eines Nachts war er spontan getürmt, hatte sein Geld und eine Handvoll Aktien geholt, die sicher in einem Wäldchen vergraben lagen. Und Pässe für eine neue Identität, die er noch vor den ersten falschen Geldscheinen angefertigt hatte. Ein ultimativer Geniestreich. Per Anhalter floh er nach Hamburg und nistete sich bei Klemens ein. Hier hatte er genügend Zeit sein Untertauchen vorzubereiten.
    »Viele Kritiker haben Theodor Storm immer wieder seine eng begrenzte, bürgerliche Sichtweise vorgeworfen. Viele sehen in seinem Werk nur puren Provinzialismus. Man bespöttelte ihn der »Husumerei«. Solche Gemeinheiten wurden noch dadurch unterstützt, dass man dem Dichter seine Beliebtheit in den konservativen Kreisen der deutschen Bourgeoisie übel nahm. Doch die meisten dieser Kritiker lasen in seinem Werk nur das, was sie auch zu lesen wünschten. Theodor Storm war kein Dichter der bürgerlichen Idylle, sondern im Gegenteil gestaltete er eher ihren Untergang.«
    Als er sein Gesicht nach der Operation zum ersten Mal im Spiegel gesehen hatte, war er noch

Weitere Kostenlose Bücher