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Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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gelaufen.
    »Am Ende bekam Storm dann doch noch Anerkennung von niemand Geringerem als Thomas Mann, der Storms Sprache ›die absolute Weltwürde‹ zugestand. Zitat: Was von Storm kam, ist nicht Storm; er setzt sich durch Anspruch, Kraft, Feinheit, Präzision gegen alles schlaff bürgerliche ab. Er ist ein Meister, er bleibt.«
    Das Knarren der Saaltür lässt seine Erinnerungen abreißen. Filmriss, denkt er und sieht beunruhigt, wie sich ein Mann und eine Frau nacheinander durch den engen Türspalt zwängen. Er stockt kurz. Während sich die Frau in die rechte Ecke des Raums drückt, schreitet der Mann an den Stuhlreihen entlang nach vorn. Als er ihn erkennt, merkt er einen kurzen Stich in seinem Herzen. Es ist Hauptkommissar Jan Swensen.
     
    * * *
     
    Obwohl Swensen bewusst vorsichtig auftritt, verursachen seine Ledersohlen ein feines quietschendes Geräusch auf dem Parkettfußboden, als er links neben den Stuhlreihen dicht an der Wand entlang schleicht. Er spürt die missbilligenden Blicke in seinem Rücken. In der Mitte des Saals streift sein Blick flüchtig über ein altes Ölbild, das den jungen Narziss zeigt, der seine Schönheit im Wasserspiegel betrachtet. Greulich gemalt, denkt er und entdeckt gleichzeitig einen leeren Stuhl in der ersten Reihe, steuert zielstrebig darauf zu und setzt sich. Er fixiert den Redner, kann sich aber nicht auf dessen Worte konzentrieren. Die gleichen einem Singsang, einem Ton wie das Säuseln eines Teekessels.
    Das ist der Wahnsinn der Normalität, denkt Swensen. Da vorn, hinter dem Rednerpult steht sie, deine Realität, nur der hast du dich zu widmen, mein Lieber. Du weißt, die Ehre der Gerechtigkeit steht auf dem Spiel.
    »Was ist das eigentlich, Gerechtigkeit?«, hatte er Meister Rinpoche gefragt, als er ihn nach Jahren auf einem Retreat wiedertraf. Er hatte in der Zwischenzeit die Ausbildung bei der Polizei angefangen.
    »Gerechtigkeit ist nur ein Begriff«, antwortete der und runzelte die Stirn. »Ein Begriff, der mir sehr begrenzt und allzu menschlich erscheint. Die Natur kennt keine moralischen Vorstellungen und deshalb ist es auch unmöglich, unsere ethischen Begriffe auf die natürliche Welt zu übertragen. Naturkräfte haben ihre eigenen Gesetze. Diese Gesetze sind weder gut noch böse, weder gerecht noch ungerecht.«
    Damals, als Meister Rinpoche ihm das sagte, war er davon überzeugt gewesen, seine Worte begriffen zu haben. Ihm fiel Melvilles Geschichte vom Kapitän Ahab ein, der das Böse in sich auf einen weißen Wal projiziert hatte, auf diese gewaltige Naturkraft Moby Dick, die jenseits jeglicher Moral das Meer durchpflügte.
    Verstehen ist so eine Sache, denkt Swensen. Wie lange versuche ich schon in der Meditation die nicht vorhandene Trennung zwischen innen und außen zu erfahren. Doch im Alltag zerrinnt einem die Welt allzu häufig zwischen den Fingern. Zurück bleiben immer zwei Haufen, säuberlich getrennt in Gut und Böse. Ich hab mich jahrelang bemüht, das Böse nicht zu dämonisieren, es als menschlich anzuerkennen. Liebe deine Feinde. Deshalb bin ich wahrscheinlich Polizist geworden, weil es das Böse da draußen wirklich gibt. Wenn man es mal wieder aufgespürt hat, sieht man selbst, dass es eine Gestalt annimmt, wie der Mann dort, der jetzt vor einem Publikum steht und wie selbstverständlich seine Taten ignoriert.
    Jetzt gibt es keine Ausrede mehr, denkt Swensen. Du musst handeln, so gut du eben kannst. Und wenn ich ganz ehrlich bin, liebe ich diesen Moment sogar, diesen hellwachen Zustand kurz vor dem Zugriff.
    Schon als er mit Silvia über das Kopfsteinpflaster in den Schlossinnenhof geeilt war, hatte ihn dieses Gefühl gepackt. Er war sich vorgekommen, als wenn sie beide unverhofft in eine historische Theateraufführung geraten waren. Der angestrahlte Vierflügelkomplex, der im niederländisch geprägten Renaissancestil mit den vielen kupferverkleideten Türmchen und verspielten Schweifwerkgiebeln errichtet worden war, lieferte die imposante Kulisse dazu. Nur die zwei Streifenwagen, die direkt vor dem Hauptportal standen, hatten dieses Bühnenbild verfälscht. Sie waren leer gewesen und das Blaulicht hatte einsam seine Kreise gedreht.
    Gedankenlos, hatte Swensen noch gedacht, als er mit Silvia Haman durch die geöffnete Eingangstür getreten war, die sind doch hoffentlich nicht mit Sirene angerückt.
    Gleich rechts hinter der Glasfront mit einer Durchgangstür hatten vor der geschwungenen Holztreppe vier Beamte gestanden. Wenig später bekamen

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