Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
gesamten Raum herrscht eine pedantische Ordnung. Neben einem modernen Wohnzimmerschrank gibt es ringsherum Regale, voll gepackt mit Büchern. Alle Buchrücken bilden eine penibel ausgerichtete, gerade Linie, kein Buch lugt auch nur einen Hauch hervor. Swensen lässt seinen Blick über die Titel streifen. Bildbände über Norddeutschland, das Wattenmeer gleich neben der grandiosen Bergwelt des Himalajas und einem Lexikon der Extremsportarten. Dann hat sein Blick die Stormabteilung aufgespürt. Unzählige Biografien über Theodor Storm, drei verschiedene Gesamtausgaben, eine Reihe Einzelromane, dazu reichlich Sekundärliteratur, zum Beispiel ›Volksglaube und paranormales Geschehen im Schimmelreiter‹, ›Spuk, Ahnung und Gesichte bei Theodor Storm‹, ›Theodor Storms Chroniknovellen‹. Swensen stutzt einen Moment als er das Buch ›Filmmaske und Make-up, Tipps und Tricks‹ zwischen der Storm-Literatur stehen sieht und verbucht es unter Zufall. Die historischen Werke daneben fügen sich alle nahtlos in das Zeitalter des Dichters ein. Er registriert: ›Fischers Weltgeschichte über das bürgerliche Zeitalter‹ und ›das Zeitalter der europäischen Revolution‹.
Gute Voraussetzungen um einen Storm-Roman zu fälschen, denkt er und wundert sich darüber, dass er keinen Fernseher entdecken kann. In der Mitte des Raumes steht eine braunlederne Sitzgruppe, direkt vor der Fensterfront ein antiker Eichenschreibtisch, daneben ein Personalcomputer. Bildschirm und Tastatur bilden einen krassen Gegensatz zu einer Unzahl von Tintenfässern und Federhaltern mit verschiedenen Schreibfedern, die auf der Schreibplatte herumliegen.
Als Swensen sich erneut umschaut, sind die Männer von der Spurensicherung, ohne dass er es mitbekommen hat, bereits an der Arbeit. Er geht zu Hollmann hinüber, der gerade die Schrankschubladen durchstöbert und deutet auf den Schreibtisch.
»Die Tinte sollten wir von einem Chemiker unter die Lupe nehmen lassen. Vielleicht ist das ja die, mit der unser Mann das Storm-Manuskript gefälscht hat.«
»Eins nach dem anderen«, erwidert Hollmann in seiner abwesenden Art.
»Habt ihr schon Fingerabdrücke aus dem Bad?«
Hollmann nickt ohne sich bei seiner Tätigkeit im Geringsten stören zu lassen.
»Die sollten wir sofort abchecken lassen, Peter. Das hat höchste Priorität. Wir brauchen unbedingt den Beweis, dass Ludwig Rohde und unser Mann ein und dieselbe Person sind.«
Hollmann winkt einen seiner Männer zu sich und gibt ihm kurze Anweisungen, die Swensen aber nicht mehr versteht, weil Hollmann sich wieder seiner Untersuchung zuwendet. Kurz darauf ruft er Swensen, der gerade eine Schreibtischschublade aufzieht.
»Schau dir das hier an, Jan«, sagt Hollmann und legt ihm einen aufgeklappten Aktenordner hin. Swensen will seinen Augen nicht trauen. Du bist es, jubelt er innerlich. Vor ihm liegen auf Pappe geklebte Zeitungsartikel, die schon einige Jahre auf dem Buckel haben dürften. Aus den Schlagzeilen geht hervor, dass sie über den Geldfälscher Ludwig Rohde berichten. Er nimmt den Ordner und drückt ihn Silvia Haman in die Hand.
»Er ist es, Silvia! Jetzt kann Püchel beruhigt sein.«
»Jetzt müssen wir ihn nur noch kriegen«, sagt Silvia.
»Genau«, bestätigt Swensen.
Plötzlich fühlt er ein Kribbeln in der Magengegend. Etwas will losstürzen, doch er bleibt unschlüssig neben Silvia Haman stehen. Die Lösung scheint so nah, als ob er sie bereits mit den Händen fassen kann. Ihm fehlt die Idee, wohin er sich wenden soll.
»Begib dich ins Zentrum deines Wissens«, hört er seinen Meister sagen und gleichzeitig taucht vor seinem Auge ein schwarzes Büchlein auf, ein Terminkalender, den er gerade noch in einer aufgezogenen Schublade gesehen hatte. Er eilt an den Schreibtisch zurück, nimmt ihn heraus und schlägt hastig das heutige Datum auf. Unter ›Dienstag, dem 19. Dezember‹ steht mit einem Kugelschreiber hingekritzelt: Vortrag 20:30 Uhr, Rittersaal Husumer Schloss.
Swensen atmet tief durch. Ihm fällt ein Stein vom Herzen, der Mann befindet sich nicht auf der Flucht.
Er hat keine Ahnung, wie dicht wir an ihm dran sind, denkt er.
Die Angst, er könnte entwischt sein, weicht aus seinem Körper. Swensen fühlt sich hellwach, Energie kehrt zurück.
Jetzt heißt es dranbleiben, denkt er, winkt Silvia Haman zu sich und zeigt ihr die Eintragung in dem Terminkalender.
»Ist das nicht verrückt? Wir wühlen seine Wohnung durch und unser Mann hält in wenigen Minuten 300 Meter von uns
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