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Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen

Titel: Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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der Mitte der Zielscheibe in Übereinstimmung zu bringen. Doch trotz aller Konzentration merkt er, wie der Lauf in seiner Hand sachte hin und her pendelt. Neben ihm erhebt sich ein Geschrei. Sechs Männer in olivgrünen Hosen und Tarnjacken klatschen rhythmisch im Takt.
    »Hajo! Hajo! Hajo! Hajo!«
    Er hält den Atem an und zieht den Abzug mit kurzen Pausen mehrmals durch. Die Kugeln schlagen nacheinander durch die Pappkarte und hinterlassen einen klickenden Metallton in dem Blechkasten dahinter. Dann saust die Zielscheibe an einem Seilzug bis vor den Standpunkt des Schützen. Der nimmt sie heraus und hält sie triumphierend über seinen Kopf.
    »Dreimal die Zwölf, eine Elf und eine Acht! Wer überbietet?«
    »Hajo! Hajo! Hajo! Hajo!«, tönt es von neuem.
    »Wie man mit sechs Halben noch so trifft, alle Achtung mein Lieber!«
    »Ja, Hajo war schon immer unser bester Schütze!«
    Er greift sich das hingehaltene Bier und leert das Glas in einem Zug. Seit langer Zeit fühlt er sich mal wieder richtig gut. Dieser ganze Polizeimist in den vergangenen Wochen, diese nervigen Verhöre, besonders das von diesem Swensen, der ihn vollquatschte und etwas zu ahnen schien, hatten ihn so runtergezogen, dass er erst gar nicht zum diesjährigen Adventsschießen kommen wollte. Doch Fred Nielsen, sein Kumpel aus der alten Reservistentruppe, redete am Telefon so lange auf ihn ein, bis er endlich zusagte. Und es hat sich gelohnt, locker ist er zum Sieger des Abends avanciert. Nach dem zehnten Durchgang führt er mit 485 Punkten unaufholbar vor den anderen.
    Ehe er sich auf den Barhocker setzt, merkt er den Druck auf seiner Blase. Er geht um den Tresen herum über den schäbigen Flur bis zur Toilette. Schon vor der Tür riecht es nach Urin. Drinnen sind die Wände schmutzig grau und mit Schwänzen, Mösen und dreckigen Sprüchen vollgeschmiert. Zwischen den ganzen Kritzeleien entdeckt er über dem rechten Pissoir die krickelige Kugelschreiberzeichnung einer Hummel, die eine Biene bumst. Darunter steht in Blockbuchstaben: Bei uns, da gib es kein Gefummel, wir sind die Truppe mit der Hummel. Er muss unwillkürlich grinsen, denn er selber hatte diesen Slogan mitsamt der Zeichnung hier vor Jahren hinterlassen.
    Die Hummel ist das Wappentier des Lufttransportgeschwaders 63 in Krummenort. Dort, in der Nähe von Rendsburg, hatte er bei der Wachstaffel seine achtzehn Monate Wehrdienst abgerissen.
    Durch das geöffnete Klofenster wehen vereinzelte Schneeflocken herein. Er zieht den Reißverschluss der Hose herunter. Ein farbloser Wasserstrahl trifft das weiße Porzellanbecken. Er spürt ein lustvolles Prickeln in seinem Genitalbereich. Genussvoll schließt er seine Augen. Es ist kalt.
    Genauso kalt wie damals, in der Nacht, als seine sechs Kumpel und er echte Freunde wurden. Es war eine jener sternenklaren Nächte, in denen man nur einen Hund vor die Tür schickt, oder eben einen Wachsoldaten. Er sah sich wieder da stehen, mit den Stiefeln auf der Stelle trampelnd. Trotz Handschuhen froren ihm die Finger. Es waren bestimmt zehn Grad unter null. Er hatte sich dicht an die Flugzeugwand unter die Tragfläche geflüchtet. Hier war er sicher vor den eisigen Windböen. Die Transportmaschine vom Typ ›Transall‹ hatte vor drei Tagen eine satte Notlandung hingelegt. Die Piloten hatten mehr Glück als Verstand gehabt, denn das Ganze passierte noch vor dem Wintereinbruch. Der Boden war vom Regen durchweicht gewesen. Das Flugzeug war deshalb nur wie ein Schlitten hundert Meter über einen Acker geschlittert und hatte sich dann mit der Schnauze in den Schlammboden gebohrt. Das Absturzgebiet wurde weiträumig zum militärischen Sperrgebiet erklärt. Aus seiner Staffel kommandierte man sieben Mann zur Bewachung ab. Drei Mann blieben wach, zwei Wachen draußen und ein Wachhabender im Flugzeug. Die anderen durften im Frachtraum pennen. Alle zwei Stunden wurde abgelöst.
    In der Ferne tuckerte der Motor des Notstromaggregats, der den Strom für das Bordlicht und die vier Außenlampen lieferte, die an vier Holzstangen rund um den Rumpf der Absturzmaschine angebracht waren. Das gesamte Gelände sicherten rasierklinkenscharfe Natodrahtrollen.
    Mit dem Licht ist unser Lager für jeden potentiellen Feind ohne Mühe einsehbar, scherzten sie immer. Aber es war etwas Wahres daran. Er zog die Kapuze des Parkers tief ins Gesicht und wollte gerade gegen die Kälte noch eine Runde drehen, als Fred Nielsen, der in dieser Nacht den Wachhabenden machte, die Treppe zur

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