Hafen der Träume: Roman (German Edition)
beendet.
»Ich bin auch jetzt viel unterwegs. Ein Hund wäre nicht sehr praktisch.«
»Wo gefällt es Ihnen am besten?« fragte Phillip.
»Ich bin flexibel. Meist gefällt es mir dort, wohin es mich verschlagen hat, bis ich wieder woanders bin.«
»Also im Augenblick St. Christopher.«
»Scheint so. Ich finde es hier interessant.« Sybill warf einen Blick aus dem Fenster. Der aufgehende Mond warf glitzernde Reflexe auf die Wasseroberfläche. »Das Leben verläuft in langsamen Bahnen, ohne stillzustehen. Die Stimmungen wechseln wie das Wetter. Wenige Tage haben genügt, und ich kann Touristen von Einheimischen unterscheiden. Und die Fischer wiederum von allen anderen.«
»Wie?«
»Wie?« Mit abwesendem Blick wandte sie sich wieder zu ihm.
»Wie können Sie die Leute unterscheiden?«
»Durch einfache Beobachtung. Ich kann von meinem Fenster den Hafen und das Wasser sehen. Die Touristen treten als Paare auf, manchmal kommen auch Familien oder Einzelpersonen. Sie schlendern umher, kaufen etwas, manchmal mieten sie auch ein Boot. Die Leute reagieren aufeinander, innerhalb der Gruppen. Sie befinden sich außerhalb ihres normalen Umfeldes. Meist tragen sie einen Fotoapparat bei sich, Karten und manchmal auch ein Fernglas. Die Einheimischen haben fast immer etwas zu erledigen, wenn sie sich draußen aufhalten. Eine Besorgung, ihre Arbeit. Sie bleiben gelegentlich stehen, um einen Bekannten zu begrüßen, und wenn das Gespräch beendet ist, gehen sie wieder ihrer Wege.«
»Warum beobachten Sie alles vom Fenster aus?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Warum sind Sie nicht unten am Wasser?«
»Das war ich schon. Aber man erhält gewöhnlich ein unverfälschteres Ergebnis, wenn man als Beobachter nicht Teil der Szenerie ist.«
»Ich glaube, Sie bekämen einen noch vielfältigeren und persönlicheren Einblick, wenn Sie mittendrin wären.« Phillip blickte auf, als der Kellner den Wein nachschenkte und nach dem Dessert fragte.
»Nur Kaffee«, entschied Sybill. »Koffeinfrei.«
»Das Gleiche.« Phillip beugte sich vor. »In Ihrem Buch gibt es ein Kapitel über Isolation als Überlebenstechnik. Sie bringen das Beispiel einer Person, die auf dem Bürgersteig liegt. Die Passanten sehen weg und machen einen Schritt zur Seite. Manche zögern, bevor sie eilig weitergehen.«
»Nichteinmischung. Disassoziation.«
»Genau. Am Schluss bleibt womöglich doch jemand stehen. Dieser eine Mensch hat die Mauer der Nichteinmischung durchbrochen, und dann bleiben auch andere stehen.«
»Sobald die Isolation durchbrochen wird, wird es leichter für die anderen, sogar notwendig, sich anzuschließen. Der erste Schritt ist der schwierigste. Ich habe den Versuch in New York, London und Budapest durchgeführt, immer mit ähnlichen Ergebnissen. Die Vermeidung von Blickkontakt auf der Straße, das Ausblenden der Obdachlosen aus unserem Gesichtsfeld, gehört zu den urbanen Überlebenstechniken.«
»Wodurch unterscheidet sich diese erste Person, die stehen bleibt und hilft, von den anderen?«
»Ihr Mitgefühl ist stärker ausgeprägt als der Überlebensinstinkt. Oder ihre Impulse lassen sich leichter auslösen.«
»Ja, schon richtig. Aber vor allem sieht sich diese Person als Teil des Ganzen. Sie geht nicht einfach vorbei, ohne wirklich anwesend zu sein. Sie lässt sich ein.«
»Und Sie glauben, weil ich beobachte, lasse ich mich nicht ein.«
»Das weiß ich nicht. Ich finde nur, wenn Sie aus der Ferne beobachten, erleben Sie nicht das gleiche Gefühl
der Befriedigung, wie es bei einer direkten Begegnung möglich wäre.«
»Meine Vorgehensweise ist die Beobachtung, und ich finde sie sehr lohnend.«
Ohne auf den Kellner zu achten, der umständlich den Kaffee servierte, glitt Phillip näher und hielt Sybill mit seinem Blick gefangen. »Aber Sie sind Wissenschaftlerin. Sie machen Experimente. Warum versuchen Sie nicht, mit direkter Begegnung zu experimentieren? Mit mir.«
Sybill senkte die Augen und sah, wie Phillips Fingerspitze mit ihrer spielte. In ihren Adern breitete sich die zunehmende Hitze sexueller Erregung aus. »Eine neue, aber ziemlich plumpe Art, um auszudrücken, dass Sie mit mir schlafen wollen.«
»Ehrlich gesagt, habe ich das nicht gemeint … aber wenn Sie Ja sagen, sofort.« Er schickte ihr ein strahlendes Lächeln, als sie ihn gequält ansah. »Ich wollte vorschlagen, dass wir einen Spaziergang zum Wasser machen, wenn wir unseren Kaffee ausgetrunken haben. Aber wenn Sie lieber mit mir ins Bett wollen, können
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