Hafenweihnacht
Obduktion keinen klaren Tatverlauf rekonstruieren zu können. »Auf die Hand getreten … ist ja grausig. Ne … also, irgendwie passt das alle nicht zusammen. Angenommen jemand läuft nächtens durch den Hafen und sieht da einen Menschen im Hafenbecken treiben – springt mutig in die Brühe, will retten, versucht sogar zu reanimieren, was ja in unserem Fall nicht ausgeschlossen ist – na, dann holt derjenige doch Hilfe?«
»Das sollte man jedenfalls meinen«, lautete Schielins Antwort, der gegen seine Müdigkeit kämpfte und der sich auf das alles keinen Reim machen konnte. Er spürte immer wieder die Mattigkeit und wollte sich lieber wach mit der neuen Situation befassen. Mit abgespannt klingender Stimme erklärte er, dass in dem Zeitunterschied der Grund für die geringen Blutaustritte lag. Dann machte er den Vorschlag, sich am nächsten Tag frisch und ausgeschlafen zusammenzusetzen.
*
Es war stockdunkel, als er die Dienststelle verließ, und hier auf dem Festland ging es im Gegensatz zur Insel einsam zu. Vom alten Reutiner Rathaus her war ihm nur ein Fahrzeug entgegengekommen und den Motzacher Weg hatte er ganz für sich alleine. Die Straße hätte endlos weiterlaufen können, so angenehm fühlte es sich an, einsam durch das Dunkel zu fahren.
Das Licht, das vom Küchenfenster aus einen gelbroten Abglanz auf die dünne Schneedecke zauberte, verhieß ein warmes Zuhause.
Er überlegte, ob er gleich noch seinen Gang zur Weide hinüber machen sollte. Während er einen Augenblick wartete und trotzig der Kälte widerstand, kam Albin Derdes von drüben herübergelaufen. Alle paar Schritte glomm die Glut seiner Zigarette auf und beleuchtete Fragmente seines alten, zerfurchten und guten Gesichts.
»Ich war schon drüben, ich war schon drüben bei Ronsard, alles in Ordnung«, begann er und nahm einen tiefen Zug. Schielin suchte genussvoll nach den würzigen, erdigen Aromen des Tabakrauches, der in der kalten Nachtluft belebend wirkte. »Schön«, antwortete er knapp. Wenn sein Nachbar schon herüberkam, an diesem kalten Abend, dann würde er schon einen Grund haben. Vermutlich hatte ihn seine natürliche Neugier vom Kachelofen weggetrieben, denn im Laufe des Tages war es in der ganzen Stadt herumgegangen, dass man einen Toten im Seehafen gefunden hatte.
Doch Albin Derdes schnitt zu Schielins Verwunderung ein völlig anderes Thema an. »Gestern warst du ja alleine zu Haus’, gell. Marja war in der Kirchenvorstandssitzung und die Lena war fort. Da hast du gestern wieder Musik gehört, gell.«
Schielin beließ es bei einem »Mhm, Musik, wie immer«.
»Was war denn des für eine Musik?«, wollte Albin Derdes wissen.
Schielin musste überlegen. Hatte er vielleicht zu laut gehört? So laut, dass man es drüben im Nachbarhaus noch hören konnte? Das war eigentlich nicht möglich. »Es war die Musik von einem Franzosen, der die Musik verschiedener, fremder Kulturen miteinander verbindet. Joel Grare und die Platte heißt Paris – Istanbul – Shanghai. Ich mag das zurzeit gern hören. Ist ja auch spannend zu sehen, wie aus der Mischung von Unterschiedlichem und eigentlich Fremdem etwas Neues und irgendwie Vertrautes entsteht.«
Derdes nickte. »Ja, des hat gut geklungen. Des musst du mir schon noch mal vorspielen. Ich bin von unserer Schafkopfrunde aus dem Köchlin heimgekommen und eine ganze Weile hier vor dem Haus gestanden und hab zugehört, trotz der Kälte. Schön war des. Und des mit den unterschiedlichen Kulturen, des stimmt wirklich. Meine Schwester, die jüngere, die Josefa, kennst du ja, die hat ja seinerzeit von Lindau nach Kressbronn geheiratet ….«
Schielin sah ihn von der Seite her an und spottete ein wenig. »Und da ist dann auch Musik draus geworden?«
»Neiiin, aber du weißt schon ….«
»Albin, bitte! Paris – Shanghai! Das ist doch schon was anderes als Lindau – Kressbronn, oder!?«, meinte Schielin und sah seinen Nachbarn auffordernd an.
Der nahm einen letzten tiefen Zug von der Overstolz, blies den Rauch mit großer Zufriedenheit in die Welt hinaus und ließ einen wenig zustimmenden Laut hören: »Na, mhm.«
Als er sich verabschiedete und umdrehen wollte, fragte Schielin verdutzt: »Und von dem Toten willst du gar nichts wissen?«
Albin Derdes winkte ab. »Eigentlich nicht. Ist was Besonderes mit ihm?«
»Ja tot ist er halt. Aber ich will was von dir wissen.« Schließlich war Albin ein wandelndes Familienlexikon für Lindau und Umgebung. Doch der Name Drohst war Albin Derdes kein
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