Hafenweihnacht
und ermöglichte weitaus freiere Gespräche. Wenzel empfand das Glück darüber in besonderer Weise, da er bis vor Kurzem nichts gehabt hatte, was unter den Begriff Familie zu fassen gewesen wäre. Durch seine Heirat hatte sich das geändert.
Dr. Zychner erlebte wieder einen jener Tage, an denen er ungehalten war – über die Welt, wie sie sich darbot, über die Umstände als solche, über sein Alter, welches er alleine schon eine Krankheit nannte, aber ganz besonders war es das Wetter, das er an diesem Tag als geradezu feindselig empfand. Seit zwei Tagen hatte der beißende Wind verhindert, dass er seine Matinee am Giebeltürmchen begehen konnte. Das Morgenlied hatte er mit zittriger Stimme in der Wohnung gesungen: All Morgen ist ganz frisch und neu. Ja! Sehr frisch, sehr frisch!, hatte er dabei gedacht und das neu verleugnet. Das Wetter und seine Gereiztheit darüber, beides machte ihn ungehalten und Wenzel kam ihm als Adressat seiner miserablen Gemütslage gerade recht, wo doch die Putzfrau erst morgen wieder vorbeischauen würde. Gleich zu Beginn wurde Wenzels geheime Hoffnung erstickt, sein Inselwächter hätte vom Dach aus etwas sehen können.
Wenzel ertrug den Hader und das Gezeter, versicherte sich der guten Verfassung seines Faktotums, auch an diesem Samstag in korrekter Bekleidung: Anzug, braune Lederschuhe und Fliege. Als er über alle Widernisse eines greisen Daseins ins Bild gesetzt war, wurde er mit einem resignierten Wink verabschiedet und marschierte lächelnd die paar Meter hinüber in den Seehafen. Von einem Boot aus wollte er die Seiten des Stegs untersuchen. Irgendwo musste die Stelle zu finden sein, an der Jochen Drohst sich hatte festhalten wollen, um dem Sturz ins kalte Wasser zu entgehen. Der Tritt auf die Hand musste Spuren am Metall hinterlassen haben.
Lydia Naber hatte gespürt, dass sie nicht in der Stimmung war, auf der Insel die Nachbarn von Drohst zu befragen. Dazu war eine innere Ruhe erforderlich, an welcher es ihr im Augenblick mangelte. Daher war sie dankbar für Robert Funks Frage gewesen, ob ihn jemand nach Nonnenhorn begleiten wollte. Sie hatte sofort zugesagt. Ein leeres Haus, noch dazu eines mit einer solchen Geschichte, das war jetzt am Vormittag genau das Richtige für sie. Und ein paar Nachbarn befragen, das würde gehen. Ihr graute beim Gedanken an die Wohnung von Jochen Drohst, diesem Ort konzentrierter Abwesenheit von Privatem, von Heimeligkeit, von Zuhause. Das fiel gerade jetzt auf, wo es draußen so kalt war und die Adventszeit in jedem den Ruf lauter werden ließ, einen Ort zu haben, an welchen man zu Hause sein durfte und konnte. Konnte dieser Drohst in seiner Wohnung das Gefühl entwickeln zu Hause zu sein? Auch zur Beantwortung dieser Frage war das Haus in Nonnenhorn für sie interessant. Es würde ihr Bild von Drohst erweitern, einem erwachsenen, reichen Menschen, der zwischen Kartons, Pizzaschachteln und Notebooks gelebt hatte.
*
Es war schnell ruhig geworden auf der Dienststelle. Kimmel hatte sich, wie in letzter Zeit üblich, in sein Büro verkrochen und Gommi erledigte einige Rechercheaufträge. Gerade war er damit befasst, in der Datenbank des Kraftfahrtbundesamtes eine Liste aller schwarzen Audi A6 mit dem schönen Kennzeichen LI zusammenzustellen. Daraus musste er dann in manueller Arbeit diejenigen heraussuchen, die über die weiteren Merkmale wie quattro, Größe des Hubraums und Avant verfügten. Damit war er erst einmal gut beschäftigt.
Schielin ergänzte die Berichte, las noch einmal in aller Ruhe das Gutachten der Obduktion und bereitete sich auf die Befragung in der Linggstraße vor. Als er danach die Unterlagen sortierte, kam ihm die Visitenkarte von Jochen Drohst unter. Chief Technology Officer. Im Grunde war es gar nicht gewollt, doch während er die Karte so betrachtete, wählte er die Nummer der Firma BIS in Bregenz. Es geschah wie nebenbei und er war ganz in Gedanken bei Jochen Drohst, wodurch er gar nicht realisierte, wie am anderen Ende abgenommen wurde. Erst nach dem dritten Nachfragen einer unbekannten männlichen Stimme meldete sich Schielin verdutzt und war tatsächlich in der Situation seine Gedanken sortieren zu müssen, denn für einen kurzen Moment wusste er gar nicht mehr, ob und wen er angerufen hatte. »Mit wem spreche ich denn?«, lautete seine routinierte Frage, die Zeit verschaffte.
Er bekam zur Antwort mit der Softwarefirma BIS in Bregenz verbunden zu sein, mit einem Herrn Adrian Zuger, der sich gleich als
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