Hafenweihnacht
Fußgänger, ließ sie warten und im Wind stehend frieren. Ein jeder hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und die Köpfe weit in die Kragen gesenkt. Aller Stolz war aus den Gestalten gewichen.
Die von der beständigen Brise in Unruhe versetzte Fläche des Sees leuchtete in tiefgründigem Kobaltblau, so wie es die berühmten Fenster in der Kathedrale von Chartres taten, nur dass hier das Firmament weit aufgespannt war und am Horizont schneeglänzende Gipfel leuchteten. Das Blau war von besonderer Eindrücklichkeit und machte einen glauben, jedes Grau sei aus der Welt verschwunden. Es waren die im Schein der Sonne aufglitzernden, hellweißen Schneeränder, die den Kontrast schufen, um dieses Blau so besonders erscheinen zu lassen, und wäre der Wind nicht gewesen, so hätte man lange Zeit an diesem Ort verbringen können, um die Weite und das Licht und die winterliche Stille zu genießen. Und der mobile Espressostand vor dem Naturschutzhaus hätte sicher ein besseres Geschäft gefunden, als heute, wo nur wenige die Wartezeit nutzten, um einen heißen Schluck zu ergattern.
Das Aeschacher Bad hockte verlassen auf trockenen, langen Staken, weil das Wasser weit hinaus zurückgewichen war. Nur drüben am Bahndamm schlugen kalte Wellen an die Granitblöcke und bizarres Gischteis schmückte die sonst so eintönigen Steinquader.
Über den Bahndamm gelangte Schielin hinüber zur Lindenschanze, vorbei an der gebührenpflichtigen Skandaltoilette und weiter zum Bahnhofsgebäude, dessen Jugendstilarchitektur der Zeit preisgegeben war und dem ein unseliges Konglomerat aus Kleingeisterei, Profitgier und Visionslosigkeit die Wiedererweckung bislang verwehrt hatte.
Eine ganze Weile schon war Schielin einem Mann gefolgt, der in der gleichen Zielstrebigkeit in Richtung Bahnhof und Hafen gelaufen war. Sein heller Mantel reichte bis fast an den Boden und die Ausläufer des festen Stoffs schwankten und schlugen bei jedem Schritt wie sanfte Wellen um seine Beine. Schielins Blicke folgten dieser Gestalt, deren lockige graue Haare, die unter dem schwarzen Borsalino hervorschienen, auf einen älteren Mann schließen ließen. Schielin nahm verwundert wahr, wie der Mann den Haupteingang des Bahnhofes rechts liegen ließ, kurz darauf mit großer Bestimmtheit auf die Telefonzellen zuschwenkte und im Vorübergehen die linke Hand in die Auffangschale der Geldrückgabe gleiten ließ, um dort nach Münzen zu suchen. Das alles geschah ohne besonderen äußeren Aufwand, mit großem Selbstverständnis und in einer Routine, die Schielins Gang unterbrach und ihn verwundert zusehen ließ, wie die Gestalt mit einem letzten eleganten Flattern des Mantelsaums im Seiteneingang des Bahnhofs verschwand.
Das zentrale Areal der Hafenweihnacht breitete sich vor der Hotelreihe zwischen Bayerischem und Lindauer Hof aus. Am Hotel Bayerischer Hof bildete sich eine übersichtliche, dennoch stockende Ansammlung von Menschen, denn die einen wollten in den Hafenbereich hinein, die anderen hinaus auf die freie Fläche des Bahnhofsplatzes.
Schielin wollte die Gelegenheit nutzen, sich einen Überblick über die Buden und das gastronomische Angebot zu verschaffen. Es würde sich auch dieses Jahr nicht vermeiden lassen, einen kleinen Familienausflug hierher zu machen. Viel hatte sich nicht verändert, nicht einmal die Standorte der Buden, die in ihrer Überzahl von Geschäftsleuten auf der Lindauer Insel betrieben wurden. Lohnenswerte Dependancen, mit hartgesottenen, gegen Kälte, Wind, Wetter, Alkoholisierte und Weihnachtssongs jeder Art gefeiten Verkäuferinnen und Verkäufern. Schielin ließ sich gegen einen Glühweinstand schieben, verharrte dort und lauschte den Popmusikklängen, die über das Budenmeer hereinbrachen. Hörte er richtig, was da gesungen wurde? Ganz bewusst lauschte er dem Text zweier Lieder. Es konnte sich demnach nur um einen der letzten Aufträge Margot Honeckers an das Kombinat für Texterstellung handeln, in welchem Beschallungsmaterial für die Jahresendzeit gefordert wurde. Es war nicht nur banal und weit entfernt von Weihnachten, was da mittels Schallwellen verbreitet wurde – nein, es war grausig banal. Während er die Liedzeile Triri, trara der Postillion ist da über sich ergehen ließ, versicherte ihm ein Blick rundum, dass er wohl der Einzige war, dem die Texte von den Ohren in den Sinn gelangt waren. Vielleicht diente der Sound aber auch dazu, frühem und übermäßigem Glühweingenuss eine nachvollziehbare Begründung zu
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