Hafenweihnacht
mit dem Fall auseinandergesetzt hatte, konnte er noch nicht annähernd ein Muster, einen Sinn, ein Motiv in dieser Tat erkennen. Drohst war ein offensichtlich vermögender Computerspezialist gewesen, der in einer erschreckend tristen Wohnung auf der Lindauer Insel lebte, obwohl er ein großzügiges Haus in Seenähe hätte bewohnen können. Ihnen fehlten außerdem jegliche Erkenntnis darüber, was Drohst in der vorletzten Nacht zu dieser späten Stunde bei Eiseskälte im Hafen zu tun gehabt hatte. Dann war da noch der Einbruch in das Nonnenhorner Haus, der mit dem Geschehen im Lindauer Hafen zu betrachten und zu bewerten war.
Schielin verlegte sich darauf, diese Problemlagen des Falles ausführlich darzulegen. Eine Diskussion kam nicht in Gang. Anschließend informierte er die anderen davon, dass die Kollegen aus Ulm die Schwester des Toten unterrichtet hatten. Er nahm den Mailausdruck zur Hand und las nochmals nach, was die Ulmer Kollegin ihm geschrieben hatte und konnte sich gut einfühlen in die Stimmung, die ihren Zeilen zu entnehmen war. Da fängt man gerade mit dem Nachtdienst an und darf als ersten Auftrag eine Todesnachricht überbringen, und auch noch für eine fremde Dienststelle. Mit mulmigem Gefühl klingelt man an der Wohnung, atmet langsam und ruhig, um den eigenen Herzschlag unter Kontrolle zu halten und wartet darauf, wer einem die Türe öffnen wird – ob es ein Mensch ist, der einem sympathisch ist, alt oder jung ist, ob er den eigenen Erwartungen und Vorstellungen entspricht, denen man sich nicht entziehen kann. Die Schwester vom Tod des Bruders in Kenntnis setzen, das ist eine heikle Sache und man hat so seine Erfahrungen.
Britta Drohst hatte eine neue Erfahrung in das Leben der Kollegin gebracht und deren Vorstellungshorizont erweitert. Wie in der Mail stand, hatte Britta Drohst ausgesprochen kühl und distanziert auf die Nachricht reagiert. Zunächst hatten die beiden Kollegen es für eine dieser Nicht-wahrhaben-wollen-Situationen gehalten, dieses bewusste Überhören, diese Haltung, die signalisierte, in seinem Alltag gestört zu werden, von den beiden Uniformen vor der Tür.
Allmählich war ihnen deutlich geworden, dass Britta Drohst weder etwas überhört oder falsch verstanden hatte noch etwas nicht wahrhaben wollte. Das war geschehen, als sie ein zweites Mal mit ihrer Frage konfrontiert waren: »Ja, und was soll ich nun damit anfangen?«
Diese Frage konnten auch die verdutzten Kollegen nicht beantworten. Sie hatten die Telefonnummer der Lindauer Dienststelle hinterlassen und um Kontaktaufnahme gebeten.
Dann erwähnte Schielin noch, dass die EC-Karte und Kreditkarte von Drohst an die Landeszentralbank gemeldet worden seien mit der üblichen Beauftragung – Sperrung und Einziehung. Über die Firma BIS in Bregenz konnte er nicht viel mehr sagen, als dass es sich um eine Softwarefirma handelte. Sie würden sich dort am Montag melden.
Die Reaktion der Schwester hielt er für so eigenwillig wie wichtig und wollte möglichst schnell ein Gespräch mit ihr erreichen.
Lydia Naber ergänzte, dass die beiden einen Rechtsstreit miteinander ausgefochten hätten, was dem Schriftverkehr einiger Akten zu entnehmen gewesen war, die Drohst in den Kartons gelagert hatte, und soweit sie den Sachverhalt richtig verstanden habe, ging es um eine Erbangelegenheit.
»Dieser Schriftverkehr ist für uns eigentlich tabu«, meinte Kimmel, und schränkte sofort ein, »ich meine, nur dass davon nichts in unseren Akten auftauchen soll.«
Den Hinweis hätte er sich sparen können, wie er dem Blick von Lydia entnehmen konnte.
Er musste tief durchatmen. Irgendwie fand er im Moment in keiner Situation die rechten Worte und traf nicht den passenden Ton. Und das war keineswegs nur im Dienst alleine der Fall. Was ironisch klingen sollte, wurde zynisch, was sachlich gemeint war, empfanden seine Gegenüber als barsch und ablehnend. »Wie machen wir weiter?«, richtete er die Frage an Schielin.
Der hatte bereits eine Reihe von Punkten notiert, die er emotionslos vortrug. Alles Routine und jeder wusste, was er zu tun hatte. »Befragung der Nachbarn im Haus, die Schwester ist natürlich für uns ganz besonders interessant, wer waren die Freunde von Drohst, wo hat er gearbeitet, was war sein berufliches Umfeld. Eine Liste mit schwarzen Audis ist abzuarbeiten und uns fehlen nach wie vor das Handy, der Geldbeutel – also die Dinge, die man gemeinhin mit sich führt. Vielleicht haben wir ja Glück und das Handy oder eine der
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