Hafenweihnacht
die Eichwaldstraße. Sie verließen den Tobel und gelangten auf der Röntgenstraße fast unbemerkt nach Reutin, und über Auenstraße und Heuriedweg zum Kamelbuckel. Ein schweizerischer Eurocity brauste unter ihnen hindurch, mit gleichem Ziel – die Insel. Ronsards Hufe klackten mit mechanischer Regelmäßigkeit auf dem Teer und entlang des Uferwegs wisperte und zischte das graugelbe Schilf; Blässhühner und Haubentaucher krächzten und girrten dazu.
Vor der Seebrücke war Schielin zu einem ersten Stopp gezwungen. Ein Bus hatte seine Ladung mit Gästen am Europaplatz entlassen, die sofort das exotische Gespann direkt am Kreisverkehr entdeckten. Im Nu war der Esel von einer lauten Menschenmenge umringt, allesamt ältere Herrschaften, die wie eine Schar Kinder herandrängten und versuchten Ronsard zu tätscheln, zu loben, zu streicheln. Es war anrührend, denn einige hatten tatsächlich Tränen in den Augen.
Was war es nur, was der Anblick eines Esels auslöste und dass dies zu emotionaleren Reaktionen führte, als sie ein Pferd oder ein Schaf erzeugen konnte? War es die Demut, die Esel ausstrahlten? Das Duldsame, Stille, das Unprätentiöse, das sich in Gestalt und Haltung ausdrückte?
Schielin fasste Ronsard direkt am Halfter, dass der keine Gelegenheit hatte Sperenzien zu machen, doch der stand gelassen da, den Kopf weit zum Boden gesenkt, und ließ die laute Freude weitherzig über sich ergehen.
Sie kamen anschließend schnell weiter und waren der Reisegruppe bald als nebliger Schatten aus dem Blick geraten. Selbst die Seebrücke lag heute einsam da. Die helle, konturenlose Fassade der Spielbank wurde durch glänzende Lichter markiert, die durch die Fensterflächen drangen. Schielin hatte den Schritt forciert, eilte dem Inselzentrum entgegen. Gleich am Anfang der Schmiedgasse, hinter der Heidenmauer und bereits im Schatten von St. Stephan, stoppte Ronsard unerwartet. Gerade hatte sein Hufschlag noch einen matten Widerhall erzeugt und nun stand er still, den Kopf erhoben und schnaubte. Schielin zankte leise. »Die Topinambur sind Ihrer Majestät wohl nicht mehr gut genug?« Ronsard drehte unschuldig den Kopf dem alten Fenster der Bäckerei Miller zu. Diese Nussteile schmeckten auch einem Esel. Schielin erschrak angesichts des Gedächtnisses seines Esels. Zwei, oder drei Mal hatte er hier Stopp gemacht, ihn festgebunden und hatte einiges mitgenommen; so wie sich das gehörte, gab es dann ein kleines Stück von den Sachen. Und nun das: Der Esel blieb vor einer Bäckerei stehen. Schielin schüttelte den Kopf und suchte nach dem Geldbeutel. In der Bäckerstube war es warm und es roch herrlich. Sein verwöhnter Esel bekam einen kleinen Brocken von den Nussschiffle und trabte dann wieder weiter.
Der macht mich zum Esel, mein Esel, dachte Schielin.
Auf dem Platz zwischen Münster und der Kirche St. Stephan war schon einiges Volk versammelt. Schielin entdeckte Lena und Marja in einer engagiert diskutierenden Gruppe. Der Ochs war eine Kuh und hatte schon einmal laut aus dem Hänger gemuht.
Ein Mann mit langem schwarzem Mantel, wehendem rotem Schal und breitkrempigem Hut eilte von einer Stelle zur anderen, teilte mit den Händen Plätze zu, an denen etwas oder jemand platziert sein sollte und geriet zunehmend in eine verzweifelt wirkende Verfassung. Schielin hielt sich mit Ronsard am Rand und wechselte mit Marja vielsagende Blicke.
Vielleicht war es der Nebel, der die Sinne hemmte. Schielin hatte klare dramaturgische Anweisungen erwartet, doch es ergab sich eine Diskussion über Grundsätzliches, Details, Sinn, Zweck und Ziel des Vorhabens, das als solches noch keiner Kategorie zuzuordnen war: Lebendkrippe, Schaustück, experimentelles Theater, religiöse Klamotte …
Unter die Diskutanten mischten sich zufällig Vorbeikommende, Interessierte wie Unbeteiligte. Schielin folgte dem Treiben aus der Distanz und war froh, mit seinem Esel nicht in das Zentrum des Interesses zu rücken. Selbst Neptun auf dem Brunnen hatte sich abgewandt. Von dort schnitten ab und an die grellen Autoscheinwerfer durch den trüben Morgen. Parkplatzsuche rund um die Kirchen erforderte Geduld. Ein bläulicher Schein stach Schielin ins Auge, als er das Halfter richtete. Er folgte dem Schein durch die Sichtlücken der Umherstehenden. Ein schwarzer Audi. Ein A6 Avant und an seiner Seite war für einen Augenblick eine Aufschrift zu sehen gewesen, eine Werbeaufschrift. Nicht zu entziffern in der kurzen Zeit.
Er sah sich um. Marja und Lena waren
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