Hahn, Nikola
ein Junge winkte dem Wagen zu. Die Aussicht, vielleicht
bald den ersten Beweis zu haben, erfüllte Richard mit Erwartung und Unruhe.
Auf die
verkohlten Trümmer der Hütte war er vorbereitet. Auf Rudolf Könitz' Landauer im
Hof nicht.
»Mama?
Schläfst du?«
Victoria
schreckte hoch. Vor ihrem Bett stand Flora. Sie hielt ihr Doyles Buch hin. »Die
Frucht mit dem härtesten Kern ist da nicht drin! Bestimmt hat sich Karl
vertan.«
»Du
liebe Zeit! Deswegen weckst du mich mitten in der Nacht?«
Flora
zog einen Schmollmund. »Mir tut der Kopf weh vom vielen Denken, aber ich muß
immer weiter denken, weil wir doch morgen nach Niederhöchstadt fahren!«
Victoria
drehte die Lampe auf ihrem Nachttisch höher und sah auf ihre Uhr. »Morgen?
Heute, du Quälgeist.« Sie rückte zur Seite, und Flora schlüpfte zu ihr unter
die Decke. Victoria schlug das Buch auf. »Was hast du als erstes gelesen?«
»Die
erste Geschichte natürlich! Und dann die zweite, und
»Schau
ins Inhaltsverzeichnis.«
Flora
studierte die Überschriften. 'Fünf Apfelsinenkerne ist die einzige
Geschichte, in der eine Frucht vorkommt. Aber das kann nicht richtig sein, denn
Kirschen haben doch viel härtere Kerne als Apfelsinen.«
Victoria
zeigte auf das Wort Apfelsinenkerne. »Nicht innen und doch mittendrin.«
Flora
starrte auf die Buchstaben. »Ich versteh's nicht.«
»Du
mußt nur richtig hinsehen.«
»Ach,
bitte...« Sie fing an zu lachen. »O ja! Das ist ja kinderleicht.« Sie zog sich
die Decke bis zum Kinn. »Darf ich bei dir schlafen? Bitte, Mama.«
»Ausnahmsweise«,
sagte Victoria und fühlte sich in die Fichardstraße zurückversetzt. Bloß war es
damals Vicki gewesen, die sich aus ihrer nächtlichen Kinderbetteinsamkeit zu
ihr und Richard geflüchtet hatte. Sie strich ihrer Jüngsten übers Haar und
erinnerte sich voller Wehmut, wie glücklich sie in den ersten Jahren ihrer Ehe
gewesen war.
Den
kommenden Vormittag verbrachte sie in der Bibliothek, sortierte Bücher ein,
schrieb einen Brief an ihren Bruder und seit langem wieder einmal in ihr
Tagebuch. Hopf hatte recht. Sie hatte sich daran gewöhnt, die gnädige Frau zu
sein, treusorgende Tochter, Schwester, Gattin und Mutter, und doch war etwas
in ihr, ein leises Nagen und Bohren, das sich verstärkte, je mehr Richard sich
ihr entzog.
Sie
dachte an ihren Besuch im Rapunzelgäßchen. War es denn so schwer zu verstehen,
daß einfache Menschen wie Heiner und Helena sich in einem herrschaftlichen
Haus wie dem ihren fehl am Platz fühlten? Und daß ihre ausbleibenden
Gegenbesuche Heiner Braun den Eindruck vermitteln mußten, sie lege keinen Wert
mehr auf einen Umgang mit ihm? Es rührte sie, daß er noch immer ihre
Kaffeetassen besaß, und seine Freude über ihren Besuch hatte gutgetan. Auch
wenn sie wenig Angenehmes erfahren hatte.
Wer, um
alles in der Welt, hatte einen Grund, Richard zu erpressen? Warum hatte er nie
ein Wort darüber verloren? Vertraute er ihr nicht? Sie war seine Frau!
Victoria fühlte plötzlich Wut. Er behandelte sie wie ein Kind, dem man aus
Willkür ein liebgewordenes Spielzeug verbot!
Sie
säuberte ihre Feder und schloß das Tagebuch ein. Solange Richard es nicht für
nötig hielt, ihr zu sagen, was er gegen Karl Hopf einzuwenden hatte, sah sie
nicht ein, warum sie auf den Kontakt zu ihm verzichten sollte.
»Ist
Fräulein Vicki nicht mitgekommen?« fragte Hopf, als er Victoria aus der Kutsche
half.
Trotz
seines Lächelns sah sie die Enttäuschung in seinem Gesicht, und sie spürte
einen Stich. War das sein wahres Interesse?
Eine
gutsituierte Braut zu finden? Glaubte er, über die Mutter an die Tochter
heranzukommen? Flora zeigte auf die verkohlten Reste der Hütte. »Was ist denn
da passiert?«
»Jemand
hat im Heu gezündelt, und schon hat's gebrannt«, sagte Hopf.
»Vicki
wäre gern mitgekommen, aber sie hat eine anderweitige Verpflichtung«, sagte
Victoria.
»Ich
hab' das Rätsel gelöst!« sagte Flora. »Apfelsine! Darf ich jetzt in dein
Spiegelzimmer?«
Karl
Hopf lächelte. »Versprochen ist versprochen.«
»Kann
ich vorgehen?«
»Aber
sicher, gnädiges Fräulein.«
Als
Victoria mit Hopf in die Bibliothek kam, stand Flora schon erwartungsvoll vor
dem Paravent. Hopf schloß auf, und sie betraten einen korridorähnlichen Raum.
Durch ein hohes Fenster fiel sanftes Licht. Es gab kein einziges Möbelstück, und
an den mit dunkler Seide bespannten Wänden hingen Dutzende
Porträtphotographien von alten und jungen, hübschen, häßlichen, dicken
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