Hahn, Nikola
das
hier«, er deutete auf das Buch, »erzählt mehr vom Leben als eine ganze Bibliothek:
Sagt die geliebte Frau die Wahrheit? Lügt sie? Jedesmal, wenn der arme Held
glaubt, die Antwort gefunden zu haben, weist die nächste Spur in die
entgegengesetzte Richtung. Ein ständiges Auf und Ab der Gefühle, das ihn
zermürbt, ihn verzweifeln läßt, bis er schließlich
»...
ihre Unschuld erkennt.«
Sein
Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Was macht Sie denn so sicher,
daß die junge Dame das Gesicht von Dr. Jekyll hat und nicht das von Mr. Hyde?«
»Es
ergibt sich aus der Geschichte«, sagte Victoria. »Es ist somit ein
folgerichtiger Schluß, daß sie endet, wie sie endet.«
»Falsch,
gnädige Frau. Sie endet im Guten, weil Sie es als Leserin so wünschen. Und
weil der Held es wünscht. Und die Dichterin sowieso. Die Wahrheit ficht das
nicht im geringsten an! Der Alp der Perversheit ist eine menschliche
Eigenschaft, das Böse mithin menschliche Tugend. Das sagt der Erfinder von
Detektiv Dupin. Und dessen Nachfolger Holmes gesteht sich zumindest ein, daß er
Bedauern verspürt, als das Böse aus seinem Leben zu verschwinden droht. Doyle
trennt, was Stevenson zurecht in einer Person sieht, doch so oder so kann das
eine nicht ohne das andere existieren. Wie sagt der große Detektiv so schön? Aus
der Sicht des Kriminologen ist London seit dem Ableben des seligen Professors
Moriarty eine ungemein reizlose Stadt geworden. Recht hat er! Ohne das Böse
hat das Gute keinen Sinn.«
Er sah
Victorias verwirrte Miene. »Oh, verzeihen Sie! Ich vergaß, daß Sie nicht mehr
auf dem neuesten Stand sind, was Sherlock Holmes' Abenteuer angeht.«
»Warum
verdächtigt Richard Sie in der Mordsache Lichtenstein?«
»Ich
war mit Hermann im Bordell. Eine Woche vor seinem Tod.« Seine Augen waren ein
unergründlicher See und die Worte dahingesagt, als habe er ein Kompliment über
ihr Kleid gemacht.
»Das
ist kein Beweis.«
Er
lächelte. »Normalerweise pflegen Damen bei der Erwähnung des Wortes Bordell
einen nervösen Anfall zu bekommen.«
»Es tut
mir leid, daß ich Sie enttäusche, Herr Hopf. Wenngleich ich zugestehe, daß mir
die Besucher solcher Etablissements nicht sonderlich sympathisch sind.«
»lhr
Mann wird so lange graben, bis er glaubt, den passenden Beweis gefunden zu
haben.«
»Warum
sollte er das tun?« fragte Victoria gereizt.
Er kam
ihr so nahe, daß sie die winzigen Einsprengsel in seiner Iris erkennen konnte.
»Glauben Sie, daß ich es getan habe?«
Sie
wich seinem Blick aus. »Was wollen Sie von mir, Herr Hopf?«
»Was
glauben Sie, das ich will?«
Sie
schluckte. »Ihre Frau ist seit zwei Jahren tot, und Vicki
»Daß
Ihre Tochter nichts für mich übrig hat, hat sie mir überaus deutlich zu
verstehen gegeben. Erlauben Sie, daß ich eine photographische Aufnahme von
Ihnen mache?«
»Nein.«
»Haben
Sie Angst vor dem, was sich offenbaren könnte?«
»Warum haben
Sie mir diesen Zeitungsartikel gegeben?«
Er
zuckte die Schultern. »Hätte ich geahnt, wie sehr Sie sich darüber den Kopf
zerbrechen, hätte ich es gelassen.«
Briddy
kam herein. »Es ist Kurierpost gekommen, gnädiger Herr. Der Bote besteht
darauf, daß Sie die Sendung quittieren.«
Hopf
verließ die Bibliothek. Victoria folgte. Der Kurier, ein junger Mann mit
Sommersprossen, wartete an der Haustür. »Bitte entschuldigen Sie, aber ich darf
die Sendung nur an den Inhaber des Labors persönlich aushändigen.«
»Ich
bin der Inhaber«, sagte Hopf. »Geben Sie her!«
Der
Mann hielt ihm ein Papier hin. »Ich bitte Sie, zuerst hier zu unterschreiben.«
Mißmutig
quittierte Hopf die Übergabe eines Päckchens. Kralsches Bakteriologisches
Institut, Wien, konnte Victoria lesen. Und den Hinweis: Achtung! Nur
durch Empfänger zu öffnen!
»Sie
entschuldigen mich einen Moment?« Hopf nickte Victoria zu und verschwand im
Keller.
»Was
war denn da Wichtiges drin?« fragte sie, als er wiederkam.
»Gift«,
sagte er ungehalten. »Allerschlimmste Krankheitserreger! Eine Messerspitze
voll davon, und ganz Frankfurt samt dem Taunusgebirge wären ausgelöscht!«
»Entschuldigen
Sie. Es geht mich nichts an.«
Er
lächelte. »Ich stelle Tierarznei her und führe zu Studienzwecken Färbeversuche
mit Bakterienkulturen durch. Wollen wir nachsehen, was Ihre Tochter treibt?«
Victoria
nickte. Im Stall war es ruhig und von Benno und Flora nichts zu sehen. Hopf
winkte Victoria zu den Pferdeboxen. »Darf ich vorstellen? Professor
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