Hahn, Nikola
Stirn. Er ballte die
Fäuste, daß es weh tat. Wenn du es nicht freiwillig tust, werde ich dich zwingen.
Das kannst du nicht. O doch! Dein geliebtes Gesetz steht auf meiner Seite, Herr
Kriminalkommissar!
Als
Victoria am späten Freitagnachmittag Laura Rothe gemeldet wurde, überlegte sie
einen Moment, ob sie sie überhaupt empfangen sollte. Die Polizeiassistentin
trug Schwesterntracht und hielt sich nicht lange mit Förmlichkeiten auf. »Ich
komme wegen Herrn Braun.«
Victoria
bereute, daß sie ihrem Gefühl nicht nachgegeben hatte. »Ich glaube nicht, daß
ich über ihn sprechen möchte!«
»Er hat
es nur für Sie getan.«
»Ich
habe mich noch nie im Leben so gedemütigt gefühlt. Soll ich mich etwa bei ihm
bedanken?«
»Wissen
Sie eigentlich, daß seine Frau schwerkrank ist?«
Victoria
starrte sie an. »Nein.«
»Und
ich dachte, Sie wären mit ihm befreundet.«
»Sie
haben kein Recht...«
»...
die Wahrheit zu sagen? Doch, das habe ich. Sie vergraben sich selbstherrlich in
Ihrem Schmerz und haben kein Auge dafür, daß andere ein viel schlimmeres
Schicksal zu tragen haben. Wahrscheinlich wußten Sie auch nicht, daß Ihr Mann zu
Herrn Braun ging, um sich seine Kümmernisse vom Herzen zu reden, und daß Paul
Heusohn, der Junge, der Ihre Tochter aus dem Keller befreit hat, in
erbärmlichsten Verhältnissen lebt und jeden Tag damit rechnen muß, daß seine
Geschwister ins Waisenhaus müssen. Aber was rede ich? Das einzige, was Sie
interessiert, sind Sie selbst, gnädige Frau!«
»Richard
hat mit mir nicht über seine Probleme gesprochen, sosehr ich ihn auch darum
bat«, sagte sie leise. »Was ist mit Helena?«
»Keiner
weiß es genau. Vermutlich eine Demenz, die mit starken Stimmungsschwankungen
verbunden ist. Und Herr Braun muß hilflos zusehen.« Ihre Augen funkelten. »Und
Sie unterstellen ihm, daß er Sie aus Lust und Laune belügt! Glauben Sie wirklich,
er hätte Ihnen diesen verflixten Brief vorenthalten, wenn er überzeugt wäre,
Ihr Mann wäre fähig, so etwas zu schreiben? Ich war dabei, als er ihn fand.
Nicht einmal mir hat er ihn gezeigt. Bis zuletzt glaubte er an einen Irrtum.«
Victoria
schwieg.
»Er
spricht so voller Hochachtung von Ihnen, Ihrer Stärke, Ihrem Mut, die Dinge
anzugehen. Ich frage mich, ob er nicht jemand änderen meint. Die Frau, von der
er mir erzählt hat, würde nicht anderen die Schuld für eigene Versäumnisse geben.«
Victoria
hatte Mühe, die Fassung zu wahren. »Bitte gehen Sie.«
»Er hat
seit Ihrem Besuch keine Nacht mehr geschlafen. Ist ein bißchen gekränkte
Eitelkeit es wert, ihn so leiden zu lassen?«
»Ich
glaube nicht, daß Ihnen ein Urteil über mein Befinden zusteht.« Victoria klingelte.
»Danke für Ihren Besuch, Fräulein Rothe. Mein Mädchen wird Sie nach draußen
begleiten.«
»Ich
finde den Weg allein.« An der Tür blieb sie stehen. »Falls es Sie interessiert:
Er geht jeden Morgen vor Sonnenaufgang zum Friedhof.«
Victoria
nickte. Das war das einzige, zu dem sie noch fähig war.
Zwei
Stunden später schickte sie nach Paul Heusohn. Sie erwartete ihn in der
Bibliothek und registrierte den sehnsüchtigen Blick, mit dem er die
Bücherregale streifte. Unsicher sah er sie an. »Sie wollten mich sprechen,
gnädige Frau?«
Sie
nahm Richards Brief aus ihrem Schreibtisch. »Es sind keine schönen Worte.«
»Um den
Inhalt geht es mir nicht. Hätten Sie vielleicht eine Pinzette oder Schere und
einen Briefumschlag?
Victoria
reichte ihm ihre Papierschere und ein großes Kuvert. Paul Heusohn beförderte
den Brief mit der Schere in den Umschlag. »Wer außer Ihnen hat den Brief
angefaßt?«
»Herr
Polizeirat Franck gab ihn mir. Er sagte, daß Wachtmeister Braun ihn gefunden
hat.«
»Haben
Sie zufällig Stempelfarbe hier?« wollte Paul Heusohn wissen.
»Im
Büro meines Bruders.« Sie ging hinaus. Als sie wiederkam, hielt er eins von
Conan Doyles Büchern in der Hand. Erschrocken stellte er es zurück. Sie
lächelte. »Mögen Sie Sherlock Holmes' Abenteuer?«
»O ja.
Ich leihe mir ab und zu ein Buch in der Arbeiterbibliothek aus. Aber sie haben
nicht alle Bände dort.«
»Richard
hatte für Detektivgeschichten nicht viel übrig. Trotzdem hat er mir ein Buch
über Chevalier Dupin geschenkt.«
»Und
wer ist das?«
»Sie
kennen Sherlock Holmes' Vorgänger nicht?« Victoria nahm das Buch aus dem Regal.
»Detektiv Auguste Dupin war der literarische Ahn von Sherlock Holmes. Er wirkte
in Paris. Wenn Sie mögen, leihe ich es Ihnen aus.«
Unter
aller Trauer
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